„Andere sehen nie das eigene Ich“

Wer einen komplizierten Gedanken nicht versteht, will ihn in Wirklichkeit nur nicht akzeptieren: Humberto Maturana, der Biologe und Erfinder der autopoietischen Systeme, spricht über die Verbindung von Naturwissenschaft und Philosophie

Interview BERNHARD PÖRKSEN

taz: Sie sind nicht leicht einzuordnen. Sind Sie eher Naturwissenschaftler oder eher Philosoph? Oder beides?

Humberto Maturana: Vielleicht könnte man mich am ehesten als einen humanistischen Philosophen charakterisieren, der wieder vor die Trennung von Naturwissenschaft und Philosophie zurückgeht. Als Galileo Philosophie und Wissenschaft voneinander unterschied, trennte er, wie ich sagen würde, Theorien voneinander, mit denen jeweils Unterschiedliches bewahrt und erhalten werden soll: In philosophischen Theorien geht es letztlich darum, Prinzipien zu bewahren. Erfahrungen, die nicht zum Erhalt dieser Prinzipien beitragen, gelten als unwichtig. Ziel naturwissenschaftlicher Theorien ist es hingegen, die Kohärenz mit dem Erfahrbaren zu erhalten; es sind die Prinzipien, die sich daher verflüssigen lassen – und es entsteht auf diese Weise eine naturwissenschaftliche Theorie. In meiner Arbeit verbinde ich die philosophische Reflexion wieder mit Naturwissenschaft beziehungsweise mit der naturwissenschaftlichen Theoriebildung.

Wie sind Sie auf diese etwas ungewöhnliche Unterscheidung von Philosophie und Naturwissenschaft gekommen?

Sie geht auf ein Erlebnis in Bregenz zurück. Es waren Philosophen und Anhänger von Karl Popper, die mich eingeladen und gebeten hatten, die Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz zu kritisieren, aber das wollte ich nicht, weil ich kein Interesse daran habe, einen so ausgezeichneten Biologen wie Lorenz zu kritisieren, auch wenn wir selbstverständlich sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten. Also behandelte ich in meinem Vortrag die Geschlossenheit des Nervensystems und versuchte, ganz allgemein und bezogen auf jede Erkenntnistheorie zu zeigen, warum niemand Zugang zu einer unabhängig gegebenen Realität haben kann.

Das ist für die Anhänger von Karl Popper natürlich eine Provokation, denn sie vertreten ja eine nur geringfügig gemilderte Fassung des Realismus: Es gibt, so heißt es, eine von uns unabhängige Realität – und wir nähern uns der wahren Welterkenntnis schrittchenweise an.

So ist es. Und als schließlich die Diskussion begann, ging es stets um das Problem der Realität. Jemand stand auf und fragte mich: „Haben Sie irgendetwas publiziert?“ – „Natürlich“, antwortete ich, „Sie können in verschiedenen Zeitschriften, die sich in Ihrer Bibliothek finden, meine Aufsätze entdecken.“ – „Werde ich dort“, so wollte er dann wissen, „die wirklichen Aufsätze finden?“ So ging das immer weiter. Zum Schluss meldete sich einer der Philosophen und sagte: „Ich bin nun, am Ende dieses Vortrags, voller Bewunderung. Niemals zuvor habe ich einen Menschen getroffen, der die englische Sprache in einer so wunderschönen Weise gebraucht, um absolut nichts zu sagen.“

Das klingt nicht gerade wie ein Kompliment.

Stimmt. Ich fragte mich also, was mir diese renommierten, zweifellos klugen und gebildeten Leute, die sich da versammelt hatten, eigentlich sagen wollten. Und schließlich kam mir der Gedanke, dass es eine fundamentale Differenz zwischen philosophischen und naturwissenschaftlichen Theorien gibt: Diejenigen, die diese entwerfen und ausformulieren, möchten jeweils Unterschiedliches bewahren. Ich kann es nur wiederholen: Wenn es darum geht, die Kohärenz mit dem Erfahrbaren zu erhalten, erzeugt man naturwissenschaftliche Theorien. Wenn man Prinzipien bewahren will, generiert man philosophische Theorien: Was an Erfahrbarem nicht zu diesen Prinzipien passt, wird verworfen, ausrangiert und abgewertet.

Sie scheinen die Philosophie als eine Spielform der Ideologie zu verstehen.

In jedem Fall hat eine philosophische Theorie unvermeidlich starke Ähnlichkeiten mit einer Ideologie: Denn was aus der Sicht dieser Philosophen unbedingt bewahrt werden sollte, war die Idee einer beobachterunabhängig gegebenen Realität, auf diese wollten sie nichts kommen lassen. Ebendaher fragten sie dogmatisch nur in eine Richtung.

Aber ließe sich nicht sagen, dass Sie als ein Naturwissenschaftler argumentieren, der zu denselben Schlussfolgerungen kommt wie die philosophische Erkenntnistheorie? Man hat bemerkt, Ihre Ideen seien denen Kants verwandt. Kant konzentriert sich auf das transzendentale Subjekt – und spricht von der unvermeidlichen Geprägtheit jeder Wahrnehmung und der Unerkennbarkeit des Absoluten, des Dings an sich. Sie erforschen das empirische Subjekt – und beschreiben die Beobachterabhängigkeit allen Erkennens. Ihre Schlussfolgerungen ähneln sich.

Die Ähnlichkeiten, die sich in den Schlussfolgerungen finden mögen, sind kein Indiz einer tiefer gehenden Übereinstimmung. Kant geht den Weg der philosophischen Reflexion, ich argumentiere als ein Biologe. Er spricht von der Unerkennbarkeit eines Dings an sich, einer absoluten, einer unabhängig gegebenen Realität, die ihm als ein ultimativer Referenzpunkt erscheint. Ich behaupte dagegen, dass es sinnlos ist, von einem Ding an sich zu sprechen, auch wenn man sich gleichzeitig seine Unerkennbarkeit eingesteht: Die Existenz dieses Dings an sich lässt sich in keiner Weise erhärten, weil man doch immer nur in Abhängigkeit von der eigenen Person und der eigenen Wahrnehmung von ihm zu sprechen vermag.

Regelrecht berühmt wurden Sie Mitte der 80er-Jahre. Autopoiesis entwickelte sich plötzlich zu einem universal eingesetzten Modewort; Soziologen, Managementberater und Psychotherapeuten griffen an den unterschiedlichsten Orten der Welt Ihre Ideen auf. Mich wundert diese Popularität, weil Sie doch eigentlich ein schwieriger Denker sind. Sie deuten viele Begriffe um, erfinden neue Wörter und verlangen Ihren Lesern sehr viel ab – kurzum: Sie zielen ganz und gar nicht auf das große Publikum.

Ich glaube nicht, dass meine Überlegungen besonders schwer zu verstehen, sondern eher, dass sie besonders schwer zu akzeptieren sind. Es stimmt auch nicht, dass ich besonders viele neue Begriffe erfunden habe, sondern ich bemühe mich möglichst umsichtig darum, einzelne Begriffe mit einer sehr eingeschränkten Bedeutung zu verwenden und auf Metaphern zu verzichten, weil diese das Verständnis des Gemeinten behindern und blockieren. Das heißt: Das Verständnisproblem erscheint mir eigentlich als ein Akzeptanzproblem. In den meisten Fällen meint man, etwas nicht zu begreifen, wenn man es eigentlich nicht mag, nicht hören oder lesen möchte.

Sie schreiben sehr entschieden auf eine abstrakte Weise. Aber macht nicht auch Abstraktion den Beobachter unsichtbar? Abstraktion löst doch die These, die sich vielleicht einem konkreten Erlebnis verdankt, von diesem Erlebnis ab.

Dem stimme ich nicht zu. Natürlich schreibe ich abstrakt, aber es handelt sich um Abstraktionen, die sich aus den Kohärenzen des Erfahrbaren ergeben; eben deshalb sind sie verständlich und regen andere an, die dann mehr wissen wollen. Die Alternative, Geschichten, Metaphern und Bilder zu verwenden, scheint mir dagegen überhaupt nicht sinnvoll. Ich finde es keine gute Idee, den Beobachter Humberto Maturana mit seinen persönlichen Erlebnissen vorzustellen; das will ich auch nicht, weil es ja nicht um das Operieren eines einzelnen Beobachters geht, sondern um die Operation des Beobachtens insgesamt. Entscheidend ist die Einsicht, dass ein Beobachter das von ihm Wahrgenommene durch seine Unterscheidungen spezifiziert, darauf kommt es an.

Wie haben Sie selbst den Popularitätsschub in der wissenschaftlichen Welt erlebt? Eine Zeit lang verglich man Sie wahlweise mit Immanuel Kant oder Ludwig Wittgenstein und sprach von Ihnen als einem „aufgehenden Stern“.

Natürlich hat sich mein Alltag durch die Euphorie, mit der man meine Arbeiten aufnahm, ein bisschen verändert; es gab zahllose Einladungen, irgendwer nannte mich einmal die Edith Piaf der Neurophysiologie. Ganz grundsätzlich gesprochen würde ich allerdings sagen, dass ich in vielen Bereichen eher ein vorbeiziehender Stern war, denn der Enthusiasmus Einzelner ist immer von begrenzter Dauer, das geht vorbei. Den Komplimenten, die man mir gemacht hat, habe ich nie eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ich höre sie mir an, bedanke mich – und lasse das Gesagte an mir vorüberziehen. Es ist ja auch eine Form des Gefangenseins, für etwas Besonderes gehalten zu werden. Und wer die Zuschreibungen anderer als seine herausragenden Merkmale begreift, der scheint mir blind zu sein: Was immer ein anderer in einem sieht – es ist doch nie das eigene Ich, es ist doch nie die eigene Person.

Dieses Gespräch ist ein für die taz bearbeiteter Auszug aus dem kürzlich erschienenen Buch von Humberto R. Maturana und Bernhard Pörksen: „Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens“. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2002. 224 Seiten, 19,90 €