Die Wunde vernarbt

2003 soll für Ruanda das Jahr werden, in dem das Land aus dem Schatten des Völkermordes heraustritt. Nach der Bewältigung der Vergangenheit steht die der Zukunft an

von DOMINIC JOHNSON

Ruanda ist zurzeit das Land der guten Nachrichten. Das Bruttosozialprodukt wächst dieses Jahr um 9,9 Prozent, die internationalen Geber loben Ruandas Wirtschaftspolitik. Nach Jahren des Krieges schloss Ruanda im Juli Frieden mit der Demokratischen Republik Kongo und zog seine Truppen ab. Die „Gacaca“-Dorfgerichte, die Völkermordverdächtige vor Versammlungen ihrer Heimatgemeinden den Prozess machen, gelten als vielversprechend. Eine neue Verfassung soll 2003 zum ersten Mal in der Geschichte des Landes freie und geheime Wahlen ermöglichen.

Doch hinter dem hohen Wirtschaftswachstum verbergen sich Korruption und Bereicherung einzelner, während in Teilen des Landes die Armut wächst. Die Geldgeber koppeln ihr Lob für die grundsätzlichen Politikentscheidungen mit Kritik an der Umsetzung, an mangelnder Transparenz sowie an leistungsschwachen Institutionen. Der ruandische Rückzug aus dem Kongo hat den bürgerkriegsgeschüttelten Nachbarn nicht befriedet. Auf Ruandas Image lasten außerdem die Recherchen einer UN-Untersuchungskommission über die Ausplünderung kongolesischer Reichtümer durch ruandische Militärs und Geschäftsleute; der Einfluss der dabei entstandenen parallelen Machtstrukturen und Schattenhaushalte auf Ruandas Innenpolitik ist groß. Völlig ungeklärt ist zudem, was mit den zehntausenden ruandischen Hutu-Milizionären und ihren Angehörigen geschehen soll, zu deren Bekämpfung Ruandas Armee im Kongo stationiert war und die allmählich von der UNO nach Ruanda repatriiert werden.

Bei den Gacaca-Gerichten sind die Meinungen geteilt. Die Idee ist, dass jede Gemeinde „ehrenwerte Menschen“ zu Laienrichtern wählt und diese dann – in Anwesenheit der Dorfgemeinde – über die aus der Gemeinde stammenden inhaftierten Völkermordverdächtigen richten. So wurden in Ruanda früher Landstreitigkeiten geklärt. Mit der Bewältigung eines Genozids könnte dieses Verfahren überfordert sein, fürchten Menschenrechtler.

Seit Ende November werden die Gacaca-Verfahren, bisher nur in Pilotprojekten getestet, auf das ganze Land ausgeweitet. Die meisten Häftlinge dürften danach in ihre Gemeinde entlassen werden – was das soziale Gefüge vor eine harte Probe stellt. Da zugleich die Hutu-Flüchtlinge aus Kongo und Tansania zurückkehren, dürften im kommenden Jahr zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit 1962 wieder so gut wie alle Ruander in ihrer Heimat leben.

Dies ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang. 1959, als radikale Hutu-Führer mit Unterstützung der belgischen Kolonialmacht die traditionelle Tutsi-Monarchie stürzten, wurden hunderttausende Tutsi außer Landes getrieben. 1994, als die Hutu-Machthaber sich der verbliebenen Tutsi mittels Völkermord entledigen wollten und am Schluss selber von Tutsi-Rebellen vertrieben wurden, flohen Millionen Hutu. An ihrer Stelle kehrten die Tutsi-Flüchtlinge von 1959 und ihre Nachkommen zurück, geführt von der heutigen Regierung unter Präsident Paul Kagame und seiner bewaffneten Bewegung „Ruandische Patriotische Front“ (RPF). Die Rückkehr der Hutu aus Zaire und Tansania setzte 1996 ein, als die RPF-Armee in Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) einmarschierte.

Die Folgen dieser wechselvollen Geschichte prägen Ruandas Zukunft. Es gibt wohl heute keine Familie, die keine Gewaltopfer zu beklagen hat oder deren Mitglieder nie zum Teil im Ausland gelebt haben. Wer zwischen 1959 und 1994 als Tutsi-Pariah im Exil lebte und danach als Sieger in ein Ruanda voller Leichen kam, sieht sein Land anders als jemand, der in einem Hutu-dominierten Ruanda aufwuchs und danach in den kongolesischen Wirren überleben musste. Wenn es innerhalb des ruandischen Volkes Tutsi- und Hutu-Identitäten gibt, sind es diese jüngsten Erlebnisse, die sie bestimmen, und nicht irgendwelche angeblich jahrhundertealten pseudo-ethnischen Spaltungen. Das erleichtert Versöhnung aber keineswegs.

Selbst innerhalb dieser neu formierten Hutu- und Tutsi-Gemeinschaften gibt es tiefe Spaltungen. Auf Hutu-Seite gibt es die überzeugten Täter beim Völkermord und ihre Handlanger, die bis heute versuchen, ihre Ideologie wieder ins politische Geschäft einzubringen; es gibt die mehr oder weniger gezwungenen Mitläufer, die erst mitmordeten und dann brav mitflohen und schließlich nach der Rückkehr versuchten, sich so unsichtbar wie möglich zu machen; es gibt diejenigen, die die ganze Zeit in Ruanda blieben und nie wussten, was das nächste Jahr bringt. Auf Tutsi-Seite fühlen sich die wenigen Überlebenden des Genozids an den Rand gedrängt von den viel Zahlreicheren, die ab 1994 aus dem Exil zurückkehrten – und auch da gibt es große Unterschiede zwischen den siegreichen RPF-Militärs aus Uganda und den eher marginalisierten Rückkehrern aus Burundi und Zaire.

Die neuen politischen Institutionen, die sich Ruanda im Jahr 2003 geben will, sollen diese Unterscheidungen so wenig wie möglich sichtbar machen, damit Ruandas Politik nicht erneut in die mörderische Falle ethnisch-tribaler Identitäten tappt. Allerdings heißt das auch, dass die offizielle Politik die tief liegenden Interessenkonflikte des Landes nur ungenügend reflektieren wird. Nach wie vor bestimmt das „Forum der politischen Parteien“, in dem die Führer sämtlicher Parteien unter RPF-Führung sitzen, das politische Leben. Das Forum droht Politikern mit Sanktionen, die der nationalen Einheit und Entwicklung und der Politik der Regierung zuwiderhandeln. Ohne eine Öffnung dieses restriktiven Rahmens, so warnte Mitte November die US-Organisation „International Crisis Group“, dürften Ruandas Wahlen zur Farce verkommen.

Die neue Verfassung, die im Frühjahr 2003 dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird, wirkt dem allerdings ein wenig entgegen. Sie sieht vor, dass Präsident und Premierminister nicht der gleichen Partei entstammen – und somit kein RPF-Einparteienstaat entstehen könne. Zugleich hat Präsident Paul Kagame zugesagt, dass die für spätestens Juli 2003 vorgesehenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen direkt, frei und geheim sein werden – das hat es in Ruanda noch nie gegeben.

Doch selbst eine demokratische Regierung wäre für Ruanda nur die Grundlage, um sich den Herausforderungen zuzuwenden, die nach Völkermord und Kongokrieg bleiben. In einem der dichtest besiedelten und zugleich ärmsten Länder der Welt, dessen Bevölkerung in den nächsten zwanzig Jahren von heute acht auf nahe zwanzig Millionen Einwohner steigen könnte, drohen massives Elend und soziale Revolte, wenn das Wirtschaftswachstum nicht dauerhaft hoch bleibt und die Armut nicht kräftig sinkt. Schon heute gibt es nicht genug Ackerland für die Bevölkerung, die zu neunzig Prozent von der Landwirtschaft lebt. Es gibt Gegenden, in denen zwei Drittel der Bauernhaushalte weniger als einen halben Hektar Land zur Verfügung haben – viel weniger als zum Überleben nötig.

Neben der Urbarmachung der zahlreichen unerschlossenen Feuchtgebieten zwischen den steilen Gebirgsketten des Landes bleibt da nur die Alternative, entweder die landwirtschaftliche Produktivität enorm zu erhöhen oder analog dem chinesischen Modell einen Großteil der ländlichen Bevölkerung zu verstädtern. Ersteres erfordert Investitionen, die die Kapazitäten Ruandas übersteigen. Letzteres ließe sich nur mit massivem Zwang realisieren. Eine Zeit lang schien es, als bevorzuge die Regierung den Weg des Zwangs: Ein Landgesetz wurde erarbeitet, das Bodeneigentum von unter einem Hektar Größe von der Registrierung und dem Vererbungsrecht ausschloss; Landlose wurden in künstlichen, sterilen Dörfer angesiedelt. Diese „Verdorfungspolitik“ ist inzwischen eingestellt worden, das Landgesetz wird entschärft und ist bis heute nicht fertig. Im Rahmen des im Juni 2002 fertig gestellten neuen Armutsbekämpfungsprogramms liegt der Akzent nun auf der Schaffung von Arbeitsplätzen durch den dezentralen Aufbau ländlicher Infrastruktur.

Ruandas Hauptproblem ist, dass alle Herausforderungen auf einmal bewältigt werden müssen: Ohne wirtschaftliche Erholung ist Frieden in der Region nicht möglich – und umgekehrt. Ohne Demokratisierung kann Entwicklung nicht funktionieren – und diese hängt vom Frieden ab. Sollte Ruanda diesen Teufelskreis durchbrechen, könnte es den düsteren Ruf eines Landes der Massengräber durch den eines positiven Entwicklungsmodells ersetzen.

DOMINIC JOHNSON, 36, ist Afrikaredakteur im Auslandsressort der taz