Das Jahr des Jammerns

Der Lebensstandard sinkt, in Berlin stimmt schon lange etwas nicht mehr. Trotzdem erscheint das aktuelle Katastrophengerede wie absurdes Theater. Ein Brief an eine Freundin aus Argentinien

von DETLEF KUHLBRODT

Liebe Maria,

die Tage hier sind grau und hässlich, wie die Sonne aussieht, hab ich längst vergessen, und irgendwie geht alles schief. Am Samstag verlor ich meinen Tischtennisschläger beim Lottospielen, am Nachmittag verlor ich fast alle Spiele, und abends kam keine einzige der Zahlen, die ich getippt hatte. Meine berufliche und finanzielle Lage bleibt also weiterhin desolat und verschlechtert sich eigentlich mit jedem Tag (wie soll man da vernünftig Tischtennis spielen können?), und irgendwie passt das sehr gut zu der Krise, von der alle reden, und zum November.

Die Lage in Deutschland sei ganz schlecht, hört man überall, das große Jammern hat eingesetzt, und man selber weiß nicht so recht, ob man’s lustig finden soll oder interessant oder auch beängstigend, weil die Leute in unsicheren Zeiten nach rechts zu tendieren pflegen. Nach neueren Umfragen fordern 80 Prozent aller Deutschen zurzeit zum Beispiel, dass man härter gegen „Außenseiter“ vorgehen soll, und 87 Prozent wollen, dass „Verbrecher härter bestraft werden“. Übel.

Passiert ist eigentlich nicht viel: Nach den Wahlen wurde bekannt, dass der Staat viel höhere Schulden hat, als zuvor gesagt wurde, man wird wegen unsolider Finanzpolitik eine Strafe in die EU-Kasse zahlen müssen, die Regierung erhöhte ein paar Steuern und wird noch mehr erhöhen, in allen Bereichen wird gekürzt, die konservative Opposition wirft der Regierung vor, dass sie die Wähler betrogen habe, Verbände protestieren, konservative Zeitungen rufen zum Aufruhr auf. Wenn jetzt Wahlen wären, würde die Regierung hoch verlieren, auch wenn eigentlich niemand daran glaubt, dass die Konservativen die Lage besser in den Griff kriegen könnten. Und außerdem ist vieles auch widersprüchlich: Gestern gab’s zum Beispiel die Topmeldung: „Konsumstimmung in Deutschland auf dem Tiefststand“ und heute – am „Buy Nothing Day“ hieß es, der Weihnachtsverkauf laufe viel besser an als erwartet.

Wie auch immer. Das Katastrophengerede hier kommt einem vor wie absurdes Theater, die Steuererhöhungen, die kommen, werden die Leute nicht ins Unglück stürzen. Der Lebensstandard wird halt etwas sinken. Wo ist das Problem? Verglichen mit der Lage in deinem Land sind die Probleme hier gering. Andererseits sind solche Vergleiche vielleicht sinnlos. Wem’s hier schlecht geht, wird ja nicht glücklicher, wenn er weiß, dass es anderswo Leuten vielleicht noch schlechter geht. Wichtiger für das individuelle Wohlbefinden sind die Veränderungen, die einem selber, die in der unmittelbaren Umgebung passieren und oft gar nicht so viel mit der allgemeinen Lage zu tun haben.

Oder diese Sachen, von denen du geschrieben hast; man ist in der Ersten Welt aufgewachsen, kommt zurück und ist plötzlich in der Dritten Welt, hat Angst auf den Straßen, auf denen man als Kind langgegangen ist, Leute wühlen in den Mülleimern, die Sachen, die man kaufen will, gibt es plötzlich nur noch in den Reichenvierteln, das Telefon fällt tagelang aus, oder auch diese Geschichte von deinem Bruder: dass das Geld, was er verdient, in Buenos Aires ungültig ist und nur in diesem Vorort, wo er arbeitet, akzeptiert wird, dass es drei Währungen in deinem Land gibt und dann noch diese verschiedenen Provinzwährungen. Besonders gruselig fand ich die Geschichte von euren Freunden, den Rechtsanwälten, die ständig Morddrohungen am Telefon kriegen, weil sie sich um Menschenrechtsfragen kümmern.

Oder die Anzeichen von einer Wiederkehr der Militärdiktatur, von denen du gesprochen hast, die Angst vor der Polizei. Und gleichzeitig wird das Land für Ausländer immer billiger. Du hattest von den ganzen Brasilianern erzählt, die nun ständig nach Argentinien zum Einkaufen fahren; gestern habe ich mit meinem Freund, dem Busfahrer, gesprochen (der die Nick-Cave-Tour gemacht hatte), und er hat von Freunden erzählt, die sich demnächst in Buenos Aires eine Wohnung kaufen wollen, um dann während des deutschen Winters in Buenos Aires zu wohnen. Ist ja alles so billig. Absurd.

Aber ich wollte dir ja von Deutschland erzählen: Einen gewissen wirtschaftlichen Abstieg scheint es hier also tatsächlich zu geben, Deutschland ist wohl nicht mehr die erfolgreichste Wirtschaftsmacht Europas, und die Gründe, die dafür genannt werden, sind einleuchtend: Man hat die Wiedervereinigung mit hohen Schulden bezahlt, das Rentensystem nicht verändert, obgleich immer weniger Leute für immer mehr und immer älter werdende Rentner bezahlen, die Arbeitslosenzahlen sind unter der rot-grünen Regierung nicht zurückgegangen, und eigentlich merkt man ja schon eine Weile, wenn man rausgeht, dass hier etwas nicht stimmt. Zumindest in Berlin.

Du erinnerst dich, als wir im Sommer bei Micha Berlin und London, Kreuzberg und Stoke Newington verglichen haben, als Matthew die Niedergangsdaten nannte und meinte, Berlin werde in den nächsten Jahren abschiffen und sich vielleicht erst in zwanzig, dreißig Jahren erholen, und ich von dieser so leicht depressiven Lethargie sprach, die Berlin seit fünf oder sechs Jahren erfasst zu haben scheint. Schwierig zu benennen, was hier so bewegungslos wirkt; dass so wenige Menschen auf der Straße sind und dass die Wenigen nichts vorzuhaben scheinen, dass der Altersschnitt so hoch ist, dass sich die Leute furchtbar langsam bewegen, dass die meisten entweder mürrisch-depressiv oder mürrisch-aggressiv scheinen, dass man so viele Verstörte auf der Straße oder in der U-Bahn sieht.

Ich hatte dir von dieser Frau erzählt, die irgendwo hier in der Gegend zu wohnen scheint. Man hört sie alle paar Tage, wie sie mit sich selber redet. Was heißt redet: Sie führt einen furchtbaren Streit auf, wie ein Theaterstück. Sie schreit jemanden an, beschimpft ihn fürchterlich mit sich überschlagender Stimme, manchmal eine halbe Stunde lang. Aber der andere ist gar nicht da, man hört ihn zumindest nicht, und das Gruslige dabei ist auch, dass man sie selber nicht sieht. Man hört sie immer nur. Man hört dies Schreien, macht das Fenster auf, guckt raus; andere in der Straße gucken auch raus, jemand ruft „halt’s Maul“, ein paar türkische Jungs lachen, aber ich habe diese Frau nie sehen können. Manchmal denke ich, sie wohnt hier in dem Haus. Egal.

Es ist irgendwie seltsam und schizophren. Zunächst hat man ja das Gefühl, die so genannte Krise gehe einen als freien Journalisten überhaupt nichts an, man hat ja als Feuilletonist eher wenig mit der Gesamtgesellschaft zu tun, arbeitet allein vor sich hin, verdient schon wieder nicht mal genug, um Steuern zahlen zu müssen, die Rente ist einem egal, und dass man selber in den letzten Jahren immer weniger verdient hat, ist ja vor allem eigene Schuld; man hätte sich ja irgendwann auch mal um einen Job bemühen können, man hätte halt mehr und besser oder auch für Zeitungen schreiben sollen, die gut bezahlen usw. Die meisten Bekannten, die frei arbeiten, sehen das ähnlich. Andererseits haben die meisten mittlerweile auch finanzielle Schwierigkeiten. Gerade die, die frei für Zeitungen schreiben. Da ist es zurzeit eng geworden.

Wegen der schlechten Konjunktur ist das Anzeigenaufkommen in den Zeitungen zurückgegangen. Die Zeitungen kürzen Seiten, schmeißen Festangestellte raus, kürzen die Etats der Redaktionen usw. Das heißt, immer mehr freie Journalisten konkurrieren um immer weniger Platz und Geld. Neulich sprach ich mit einem Redakteur. Wir schätzten, dass der „Kuchen“, den sich die Freien teilen, nur noch halb so groß ist wie vor zehn Jahren. Und das kriegt man schon zu spüren: Leute, die etabliert waren, haben plötzlich Probleme, Texte unterzubringen. Manche schreiben nur noch halbtags und arbeiten den Rest mittlerweile für 5 Euro die Stunde und sind glücklich, dass sie solche Jobs kriegen. Und man selber findet Stundenlöhne von 5 Euro auch schon fast akzeptabel, selbst wenn man sie zunächst noch nicht macht.

Und irgendwie verliert man beim Schreiben auch die Relaxtheit, man kann es sich nicht mehr wirklich leisten, zu Hause auf irgendwelche Aufträge zu warten, Angebote abzulehnen, sich bitten zu lassen, und hat das Gefühl, plötzlich großes Interesse heucheln zu müssen, um irgendwelche kleinen Aufträge zu kriegen, die man früher nie gemacht hätte. Ich bin natürlich selber schuld, aber wahrscheinlich finde ich das auch, weil der Gedanke, dass man das gar nicht mit mehr in der Hand hat, doch zu demütigend ist. Entschuldige, dass ich so viel jammere. Das Jammern ist halt eine der deutschen Nationaleigenschaften, wie das Nacktbaden etwa.

Vor ein paar Tagen war ich übrigens mit P. flippern. Inzwischen beneide ich ihn um seine Arbeitslosenunterstützung von 800 Euro und jammerte rum. Er meinte, ich hätte keinen Grund zum Klagen; meine Eltern hätten doch ein Haus, von dem ich in zwanzig oder dreißig Jahren ein Drittel erben würde, und deshalb sei ich doch potenziell ein reicher Mann. Ich dachte, er mache einen Witz, ich meine: Er war doch früher linksradikal, und nun kommt er mit so einem Unsinn. Unglaublich; nicht nur an so was zu denken, sondern auch … ich meine, zumindest wenn man keine Kinder hat, ist doch völlig egal, was in zwanzig Jahren ist. Erst mal geht es doch ums Jetzt. Alles Gute!