theorie und technik
: Public Enemies unter sich: Sex mit Hans Peter Duerr und Arnulf Baring

Aufstand in der Anstandsidylle

Trotz aller Diskussion über Arnulf Barings Rundumschlag neulich in der FAZ, mit dem er schlappe Politiker und ihre willigen Untertanen abwatschte, wurde über den entscheidenden Satz einfach hinweggelesen: „Abgesehen von der Sexualität sind bei uns alle Themen tabuisiert, zum Beispiel die Probleme des Bevölkerungsrückganges in Deutschland.“ Nun sollte man ja eigentlich meinen, zwischen beiden Themen bestünde ein ursächlicher Zusammenhang. Denn wo nicht genügend gevögelt wird, können auch keine künftigen Beitragszahler und erst recht keine Generationengerechtigkeit entstehen. Ergo haben wir die ganze Malaise und müssen auf die Barrikaden gehen. Aber Baring ahnte: Ein offener Aufruf dafür, die reproduktiven Funktionen von Sex wieder ernster zu nehmen und sich das zweckfrei-vergnügliche Kopulieren für bessere Zeiten (etwa unter einem Kabinett Koch) aufzusparen, wäre ernsthaft keinem zuzumuten gewesen.

Mit seinem Hinweis auf sexuelle Struktureffekte berührte er allerdings eine Kontroverse, gegen die sich der Schreihals-Parlamentarismus bei Sabine Christiansen geradezu wie ein harmonisches Candlelight-Dinner ausnimmt. So versucht der streitbare Ethnologe Hans Peter Duerr seit 1988 gegen erbitterte Widerstände den Nachweis zu führen, dass die von Norbert Elias begründete Zivilisationstheorie vor allem darin irrt, dass sie etablierte Schamgrenzen nur für ausdifferenzierte, moderne Gesellschaften gelten lässt. Nach dem Motto: hier der geregelte Geschlechtsverkehr, dort das wilde Treiben.

Auch der fünfte und letzte Band seines gewaltigen Oeuvres „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ erbringt massenhaft empirisches Material, um den Evolutionismus Elias’ zu korrigieren. Man erfährt, dass etwa die Lisufrauen sich genauso rituell über Penisgrößen den Mund zerfransen, wie das Europäerinnen in nachmittäglichen Talkshow-Beichten tun. Nur würden die Pendants zu Arabella oder Bärbel ausdrücklich als h’aw ja-gu chye kua („Die, die begabt sind, über Schwänze zu reden“) gepriesen. Die so genannte Informalisierungsthese, wonach sich komplexe Gesellschaften im Vergleich zu Face-to-face-Gemeinschaften ungezwungener geben können, weil die individuelle Selbstkontrolle gesichert sei, nennt Duerr unter dem Verweis auf Spanner und Busengrabscher indes „eine völlig unrealistische Anstandsidylle“.

Dass unsere Affektstruktur so zivilisiert nicht sein kann, belegen für Duerr auch zwei Ereignisse des Jahres 1992: zum einen die eruptive Gewalt und sensationsgierige CNN-Berichterstattung bei den Riots in Los Angeles, zum anderen das Statement von Senator De Concini in einem Hearing über sexuelle Übergriffe innerhalb der US-Armee während des Einsatzes bei „Desert Storm“: „American women serving in the Gulf were in greater danger of being sexuelly assaulted by our own troops than by the enemy.“

Nach beiden Lektüren fragt man sich unwillkürlich: Was ist eigentlich bedenklicher? Die westlichen Projektionen auf das Sexualverhalten anderer Ethnien oder die wohlig erschauernde Angstlust von Leitartiklern, die aus gemütlichen Schreibstuben heraus Revolten gegen den Staat und Beteiligungen an Golfkriegen fordern? Die Antwort auf eine andere Frage fällt da schon leichter: „Wofür halten uns die Leute, die uns repräsentieren?“, hatte Baring geschmettert. Um es mit dem einfallsreicheren Polemiker Duerr zu sagen: für „Klopfhengste“.

JAN ENGELMANN

Hans Peter Duerr: „Die Tatsachen des Lebens“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 1.019 S., 49,90 €