Hurra, die Schule ist schuld

So traurig ist die Welt ein Jahr nach Pisa: Alexander Provelegios und Peter Köpf fürchten die Kommerzialisierung der Kinder; Konrad Adam glaubt sogar, dass die heutige Generation gar keine Kinder mehr kriegen will, da sie lieber ein Dritthaus möchte

Auch geballte Empirie kann dogmatische Überzeugungen nicht so bald aufweichen

Wenn sich derzeit jemand zum Thema Kinder vernehmen lässt, ist das Kindesopfer nicht weit. Unterhalb biblischer Gleichnisse tut’s kaum ein Kritiker, der die Irrwege der lieben Kleinen durch das verschlungene deutsche Bildungs- und Erziehungssystem unter die Lupe nimmt.

Alexander Provelegios und sein Koautor Peter Köpf etwa wollen uns zeigen, wie allumfassend Kinder kommerzialisiert werden: Geburt, Erziehung, Schule. Die Autoren machen das mit dem Abraham-Syndrom sinnfällig, der Neigung, „Kinder als Verfügungsmasse der Erwachsenen zu sehen“. So wie Abraham vor 3.000 Jahren bereit war, für Gott seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern – so seien wir heute dazu verführbar, unsere Kinder fremden Zwecken hinzugeben. Die neuen Götter, so die schwungvolle These Provelegios’ und Köpfs, sind „Politiker, Volkswirtschaftler, Psychotherapeuten, Ärzte, Werbestrategen, Journalisten und natürlich auch manche Eltern selbst“. So, so.

Heutige Generationen „haben nicht mehr viel, was zu bewahren oder was zu opfern lohnen würde“, donnert dagegen Konrad Adam, denn „sie haben auf Kinder verzichtet“. Der politische Chefkorrespondent der Welt verbraucht gleich zwei bombastische Parabeln für seine Opfertheorie – Jean Pauls „Levana“ und Gustave Flauberts „Salambo“.

Glücklicherweise lässt es Adam erst in seiner Schlussbetrachtung über „Die deutsche Bildungsmisere“ derart krachen. Provelegios und Köpf hingegen drängen einem den biblischen Rausschmeißer ihres Buches „Wir wollen doch nur ihr Bestes!“ gleich zu Beginn auf. Für ihre an sich interessante Kommerzialisierungsthese bringt das wenig. Und so fehlerhaft und schräg geht es auch weiter.

Jede Frau, jedes Paar sei heute bedingungslos dem Anspruch von Interessengruppen unterworfen, „den wichtigsten Rohstoff einer Gesellschaft zu produzieren“ – Kinder. Ist dem Reproduktionsbefehl Folge geleistet, sehen sie die armen Eltern erneut einem Zwang ausgesetzt: „Ihren Kindern möglichst viel und möglichst frühe Förderung angedeihen zu lassen.“

Beides ist falsch. Da braucht man den düsteren Keiner-will-mehr-Kinder-Adam gar nicht als Kronzeugen bemühen. Kein Pärchen, schon gar nicht jene aus den gesellschaftlichen Sphären, in denen Provelegios und Köpf ihren Mojito trinken, lässt sich vom Staat zum folgenreichen Geschlechtsakt nötigen. So ernst nimmt schließlich keiner das Rentengejammer.

Provelegios und Köpf haben auch ein bildungspolitisches Argument: Mit den Schulen ist schon alles okay – trotz Pisa. Der „tendenziösen Studie“ nämlich, die vor einem Jahr den Pisa-Schock auslöste, trauen die Autoren einfach nicht. Für sie ist der weltweite Schülervergleich nur das Geschütz, mit der die „Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit“ (OECD) die deutschen Klassenzimmer für die feindliche Übernahme durch die Industrie sturmreif schießt: „In den Händen der Wirtschaft degeneriert Schule zwangsläufig zur Kaderschmiede, in der Eliten sich reproduzieren.“

Es lohnt an dieser Stelle, um das Lesevermögen der Autoren einschätzen zu können, einen Moment die Pisa-Interpretation der OECD zu wiederholen: Die bei den fünfzehnjährigen Schülern gemessenen Lesekompetenzen seien insgesamt schlecht, ungleich verteilt und extrem stark von der sozialen Herkunft abhängig. Für den wichtigsten empirischen Befund in anderen Ländern hält die OECD, dass Bildungssysteme sowohl Chancengleichheit in der Breite und Leistungsförderung in der Spitze schaffen können. Sie drängt daher kaum verblümt darauf, das elitäre System der frühen Auslese in Deutschland abzuschaffen. Oder anders gesagt: Die als liberal geschmähte Wirtschaftsorganisation bringt eine viel schonungslosere Kritik gesellschaftlich gewollter Bildungsverhältnisse zustande als die vermeintlich Linken Provelegios und Köpf. Das tut weh.

Konrad Adam ist natürlich ein ganz anderes Kaliber als die beiden Kritikaster. 21 Jahre lang war er im FAZ-Feuilleton für das Thema Bildung zuständig, er kennt sich aus im Geschäft. Dazu schreibt er so herrlich provokant und konservativ, dass es meist eine Freude ist. Diesmal jedoch ähnelt Adams Ignoranzfaktor dem von Provelegios und Köpf.

Konrad Adams eherne These über die deutsche Schule ist bekannt: Die 68er sind schuld. Ihre Reformpädagogik hat schließlich eine Kulturrevolution mit sich gebracht, die der Schule schweren Schaden zufügte, weil sie „die gewöhnlichste aller Sekundärtugenden, die Leistung“, durch das Soziale ersetzt habe. So weit das Bekannte.

Das Bemerkenswerte ist nun, dass Adam diese Thesen mit Pisa zu begründen versucht – und dies unbeirrt ein ganzes Buch lang durchhält, obwohl die Studie und ihre Autoren das glatte Gegenteil von dem sagen, was Adam behauptet. Es handelt sich dabei nicht etwa um Petitessen, sondern die bereits erwähnte Fundamentalerkenntnis von Pisa: Breiten- und Elitenförderung sind zugleich möglich. Finnland und andere Länder bringen es auf Abiturquoten von 70 Prozent, sie haben dabei eine ungeheuer breite Leistungsspitze und ganz wenige Schulversager.

Konrad Adam glaubt hingegen immer noch, dass die „bis auf vierzig oder fünfzig Prozent eines Altersjahrgangs angeschwollenen Abiturientenquoten“ in Deutschland mit einem deutlichen Niveauverlust erkauft worden seien.

Worauf gründet die Pisa-Fehlperzeption beider Bücher? Bildung ist erstens ein hochideologisches Feld. Auch geballte Empirie kann offenbar dogmatische Überzeugungen nicht von heute auf morgen aufweichen. Zweitens geschieht das, was Adam bereits seit einem Jahr am Werk sieht, ja gerade erst: Eine neue Debatte über den Unsinn, Schüler schon im Alter von zehn Jahren nach Begabung zu sortieren. Nicht linke Aktivisten sind es diesmal, die mit Schaum vor dem Mund fordern, alle Gymnasien sofort niederzureißen, sondern alteingesessene Organisationen wie die Handwerkskammer Baden-Württembergs fordern ein schrittweises Umdenken: Grundschulen finanziell und personell besser auszurüsten, sie pädagogisch aufzuwerten und zu verlängern – notfalls bis zur neunten Klasse. Ganz unideologisch. Und ohne Kinderopfer. CHRISTIAN FÜLLER

Alexander Provelegios/Peter Köpf: „Wir wollen doch nur ihr Bestes“,180 S., Europa Verlag, Hamburg 2002, 14.90 €ĽKonrad Adam: „Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen“, 220 S., Propyläen Verlag, Berlin 2002, 20 €