Bis Neujahr wird Inguschetien besenrein

Gewaltsam werden tschetschenische Flüchtlinge nach Hause zurückverfrachtet. Wo sie dort hinsollen, weiß niemand

MOSKAU taz ■ „Gesagt, getan“ ist nicht unbedingt ein russischer Wahlspruch. Es sei denn es gilt, tschetschenische Flüchtlinge aus inguschetischen Auffanglagern zu vertreiben. Die Behörden scheuen keine Mühe, den im Mai vereinbarten Umsiedlungsvertrag doch noch bis zum Jahresende zu erfüllen. Vertragspartner waren nicht die Flüchtlinge, sondern die von Moskau inthronisierten Marionetten in Inguschetien und Tschetschenien.

Deren Auftrag für den mit Flüchtlingsproblemen betrauten föderalen und lokalen Migrationsdienst ist einfach. Bis Neujahr ist Inguschetien besenrein zu übergeben.

Den Auftakt machte gestern das Lager Aki-Jurt, in dem laut Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats 1.500 Flüchtlinge lebten. Abends war das Lager bis auf 17 Zelte geräumt. Dessen Insassen wurden auf Lkws verladen und in unbekannte Richtung abtransportiert. Die Bitte des UN-Flüchtlingskommissars in Russland, Ron Redmond, die Bewohner nicht gegen ihren Willen zu deportieren, stieß in Moskau und Nazran auf taube Ohren.

Von einer freiwilligen Rückkehr könne, so das Kommissariat, nur die Rede sein, wenn die Flüchtlinge vorher über die Lebensbedingungen am neuen Wohnort informiert worden seien und weiter in Inguschetien bleiben könnten.

Nach außen hin versuchte Moskau den Eindruck zu erwecken, niemand würde gegen seinen Willen gezwungen. Flüchtlinge beklagten sich indes massenweise, dass Werber des Kreml sie gezwungen hätten, eine freiwillige Rückkehrerklärung zu unterschreiben.

Seit Tagen suchten Emissäre des Migrationsdienstes hartnäckige Familien zigmal auf und übten Psychoterror aus, berichtete Swetlana Gannuschkina von der Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Wer sich weigerte, dem wurden die Alternative aufgezeigt: Sie würden auf die Straße gesetzt, verlören jeden Anspruch auf die kärgliche Lebensmittelration und müssten auf die Rückkehrhilfe von zwanzig Rubel (66 Cent) pro Kopf und Tag verzichten. Auch besondere Heimtücken wandte die Bürokratie an: Einigen Flüchtlingen wurden Mietverträge in Inguschetien angeboten, worin sich der Staat verpflichtete, den Mietzins an die Vermieter zu übernehmen. Darauf fallen in Russland nur die ganz Naiven rein …

Die Praktiken der Zwangsumsiedlung erinnerten an die Methoden der Zwangskollektivierung der Bauern in den 30er-Jahren, meinte der Menschenrechtler Oleg Orlow. Auch damals hätten sich die Bauern „freiwillig“ in die staatlichen Kolchosen abtransportieren lassen. Unklar ist, wo die Rückkehrer untergebracht werden sollen. Die halbwegs bewohnbaren „Punkte vorübergehender Unterbringung“ sind hoffnungslos überfüllt und neue werden zurzeit nicht eingerichtet. Viele Flüchtlinge wurden daher in der Nähe von Ruinen oder gleich auf freiem Feld abgesetzt. Dass die Rücksiedlung kurz vor dem Ende des Ramadan stattfindet, ist sicher kein Zufall.

KLAUS-HELGE DONATH