„Das Leben besteht aus Klischees“

Warum das Indoktrinieren keine Rolle spielt: Ein Gespräch mit dem Regisseur Winfried Bonengel über die Vorzüge des Spielfilms gegenüber dem Dokumentarfilm, über die Vermittlung von Lebensgefühl und über die echten Nazis

taz: Herr Bonengel, gegen Ende Ihres Films löst sich Tommy, die Figur, die von Anfang an rechts war, von der Szene, während die zweite Hauptfigur, Heiko, zum überzeugten Neonazi wird. Wie sich diese Überkreuzbewegung genau vollzieht, bleibt jedoch in einem Zeitsprung verborgen.

Winfried Bonengel: Da muss ich Ihnen widersprechen. Während Heiko im Gefängnis sitzt, wird gezeigt, dass er für sich keine andere Möglichkeit sieht, als sich einer Gruppe anzuschließen. Ich habe darauf verzichtet, seine weitere Karriere innerhalb dieser Gruppierung zu zeigen. Denn der entscheidende Schritt ist, dass er nach seinen Erfahrungen im Gefängnis keinen anderen Weg mehr sieht, obwohl er es am Anfang vollkommen absurd findet, Nazi zu sein. Wenn er überleben will, braucht er Leute. Es hätten andere sein können, aber es waren halt Nazis.

Aber das ist doch die Crux. Aus der Strategie wird plötzlich eine gefestigte rechtsradikale Überzeugung. Und genau diese Entwicklung lässt der Film aus.

Ich weiß, was Sie meinen. Ich habe mir jahrelang den Kopf darüber zerbrochen, warum die Nazis nach dem Mauerfall weitergemacht haben. Ich habe keine Antwort darauf gefunden, bis mir klar geworden ist: Es braucht eine gewisse Entwicklung. Man wird nicht von heute auf morgen Nazi. Es ist ein großer Schritt, bis man sich darin wiederfindet, und genauso groß ist der Schritt, um wieder herauszukommen. Ich habe das an Ingo Hasselbach gesehen. Das ging über Jahre. Genauso ist es hier: Es hat sich so viel Hass angesammelt, dass er sich entladen muss.

Das heißt, dass Sie den persönlichen Motiven einen größeren Raum geben als Ideologie und politischem Bewusstsein.

Ja. Ich will den politischen Fragen gar nicht ausweichen, es ist ja ein hochpolitischer Film. Aber was mich interessierte, war zu zeigen, wie Leute in die rechte Szene reinkommen. Und die wenigsten tun das, weil sie finden, dass es dort Superprogramme gibt. Es sind eher persönliche Defizite.

„Führer Ex“ erzählt von vielen Dingen: von der Freundschaft zwischen zwei jungen Männern, von den Repressionen im DDR-Alltag, vom Gefängnis, von der rechten Szene. Sie selbst haben gesagt, dass in die beiden Hauptfiguren zehn reale Vorbilder eingehen. Ist das nicht zu viel?

Nein. Das Problem hat man immer, wenn man mit authentischen Stoffen arbeitet. Mir ging es darum, das Lebensgefühl wiederzugeben. Auch wenn ein Spielfilm etwas sehr Künstliches ist, eignet er sich dafür besser als der Dokumentarfilm. Für einen Dokumentarfilm könnte ich eine Menge Leute befragen, aber der eine würde sagen: „Es war so“, der Nächste: „Es war anders“. Damit zeigt man kein Lebensgefühl. Beim Spielfilm ist es so, dass ich Unmengen von Material habe, aus dem ich ausfiltern muss. Wichtig ist, dass die Geschichte funktioniert. Mit zehn Hauptfiguren geht das nicht.

Mir erschien es manchmal überdeterminiert.

Inwiefern?

Insofern als alles, was geschehen kann, auch geschieht: Fluchtversuch, Inhaftierung, Vergewaltigung, Verrat unter Freunden …

Sie meinen, es ist nichts ausgelassen?

Ja.

Generell kann ich an jeder Geschichte alles ins Klischee ziehen. Es gibt keinen Film, bei dem das nicht so wäre. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie das so darstellen. Das Leben besteht nur aus Klischees. Die Frage bei dem Film ist, ob man sich mit den Emotionen identifizieren kann oder nicht.

Laurens Straub, der Produzent, sagte, es gebe eine didaktische Absicht.

Gegen das Wort „didaktisch“ wehre ich mich. Mir geht es darum zu zeigen, dass es emotionale Gründe sind, warum Leute Nazis werden. Das ist wie in einer Sekte. Wenn ich jemandem genügend Komplimente mache, wird er sich wohl fühlen und ist damit leichter manipulierbar. Danach erst kommt das Indoktrinieren, und deswegen spielt es im Film erst relativ spät eine Rolle. Zumal hinreichend bekannt ist, was man über politisches Indoktrinieren sagen kann. Da muss man nicht extra einen Film machen.

Warum haben Sie die Nazis so dargestellt, wie Sie es im Film getan haben?

Weil sie so sind. Ich habe viele Nazis kennen gelernt, und sie sind genau so.

Die Horden, das Gebrüll …

Es ist haargenau so. Und wenn einer sagt, es ist Klischee, dann ist es so. Ich habe das echt oft erlebt.INTERVIEW: CRISTINA NORD