Du tust alles für ein Lachen

Wenn die Selbstbehauptung an Häagen Dasz scheitert, bleibt tief empfundene Scham. In Zhang Yimous „Happy Times“ müssen die Figuren erfahren, wie sich die chinesische Gesellschaft hin zu einer gigantischen Freihandelszone entwickelt. Kleine Fluchten sind nur noch mit Papiergeld möglich

Die gute Miene zum bösen Spiel ist clowneske Verzweiflung

von ANDREAS BUSCHE

Wahrscheinlich musste in unserer Kultur der Sichtbarkeit ein chinesischer Regisseur kommen, um die Blinden als die wahren Sehenden zu entlarven. Die Nichtblinden laufen in Zhang Yimous „Happy Times“ durch eine Welt aus Icons und (Schrift-) Zeichen, ohne sie noch wirklich deuten zu können. Auf die soziale Depraviertheit folgt die semiotische. China ist ganz folgerichtig Schauplatz solcher Tragödien: Die Volksrepublik, strukturell immer noch größtenteils Arbeiter-und-Bauern-Staat, befindet sich momentan im Umbruch zu einer gigantischen Freihandelszone, offen für den westlichen Markt. Und ist damit erstmals auch der Bilder- und Zeichenflut der Informationsgesellschaft ausgeliefert.

In Zhang Yimous letztem Film „Heimweg“, einer Romanze im bäuerlichen China unter der Ägide des großen Parteiführers Mao, sah das noch etwas anders aus. Da war die Gegenwart eine monochrom graue Oberfläche, während die Erinnerungen aus der Zeit der Kulturrevolution wie mit Naturfarben gemalt schienen. In „Happy Times“ dagegen sind Farben nicht mehr Ausdruck einer unschuldigen, zuweilen schmerzvollen Nostalgie, sondern in ihrer Plastizität eventuell selbst schon Menetekel dieser absoluten Sichtbarkeit – bis zur totalen Blindheit. Eine Blindheit, in der das von der Konsumwelt ausgeschlossene Individuum dann sogar wieder seine Erfüllung finden kann. Der Titel „Happy Times“ könnte auch von Mike Leigh stammen: Die Selbsttäuschung von einem richtigen Leben im falschen führt bei Yimou immerhin für einen kurzen Augenblick zu einem würdevollen Lebensentwurf. Aber Schmerz und Erniedrigung sind wie selbstverständlich Nebenprodukte dieser Projektionsleistung. Und das ist bitter.

Ein Frührentner ohne Familie und ein kleines blindes Mädchen sind in „Happy Times“ die Hauptfiguren. Das klingt tatsächlich nach Sozialkitsch, und Yimou muss zunächst auch seinen ganzen Charme spielen lassen, um diese Konstellation glaubwürdig zu etablieren. Der alte Zhao (Zhao Benshan) findet das Mädchen Wu (Dong Jie) im Haushalt seiner zukünftigen Ehefrau, die er offensichtlich über eine Zeitungsannonce kennen gelernt hat. Diese Ehe ist jedoch an einen Vertrag gebunden, es geht natürlich um Geld. Nebenbei will die propere Witwe (Dong Lifan) auch noch ihre Stieftochter an den alten Mann loswerden, um ihren nicht minder übergewichtigen Sohn durchfüttern zu können.

Zhao verspricht seiner Zukünftigen, Wu einen Job in seinem Hotel zu besorgen. Doch das stellt sich als ein alter, zu einem Liebeshotel umfunktionierter Bus heraus. Als der Bus von der Stadt verschrottet wird, müssen Zhao und seine arbeitslosen Freunde kurzfristig umdisponieren: In einer stillgelegten Fabrikhalle ziehen sie einen provisorischen Massagesalon hoch, um dem blinden Mädchen (und dessen Stiefmutter) weiterhin die Illusion zu geben, in einem florierenden Hotel zu arbeiten. Die einzigen Kunden allerdings sind Zhaos Freunde, und als ihnen das Geld ausgeht, müssen sie anfangen, das Mädchen mit Papiergeld zu bezahlen.

Täuschungen und Inszenierungen wirken in „Happy Times“ wie kleine Fluchträume im Konsumzoo. Selbst eine Firma wie Häagen Dasz hat es inzwischen auf den chinesischen Markt geschafft, aber für Zhao ist das Eis schlicht unerschwinglich. Das Produkt stellt hier so etwas wie eine soziale Ordnung her. Und in dieser Hierarchie wiederum drückt sich indirekt die Ökonomizität des Sozialen aus, das heißt die Unterordnung sozialer Belange unter monetäre. Es sind trotzdem weniger die ökonomischen Verhältnisse selbst, die in „Happy Times“ interessieren, als vielmehr die sozialen. Und hier bleibt der Film ganz antimaterialistisch-grundsätzlich. Die naiven Utopien, die eine solche Position hervorbringt, sind zu filigran, als dass sie sich ungeschützt einem harten Sozialrealismus entgegenstellen könnten. Dem Sarkasmus des Titels zum Trotz hat Yimou für „Happy Times“ die Form eines humanistischen kleinen Märchens gewählt. Mit dem Motiv der bösen Stiefmutter erinnert er an „Aschenputtel“, zugleich klingen de Sicas berührender Neorealismus und Chaplins „Lichter der Großstadt“ an. Im englischen Titel der Romanvorlage äußert sich das Dilemma der Figuren noch etwas expliziter: „Shifu, you'll do anything for a laugh.“ Die gute Miene zum bösen Spiel ist nur noch eine clowneske Verzweiflung.

Die Filme Zhang Yimous sind schöne Beispiele für eine poetische Form von einem sozial relevanten – und damit auch politischen – Kino, gerade weil in ihnen Politik und Stoff wie eine feinmaschige Textur angelegt sind. In seinem letzten Film, „Heimweg“, war das sogar ganz buchstäblich zu verstehen: im Bild der Webmaschine, die über Jahrzehnte einen historischen Text webt. Und „Rote Laterne“ war ein schier überwältigendes Historiendrama, in dem eine scharfe Kritik am immer noch existenten patriarchalischen Gesellschaftssystem Chinas anklang. In Yimous besten Filmen ergänzen sich Form und Inhalt komplementär, ohne sich in ihrer Intention zu doppeln. Auch „Happy Times“ ist nah dran an dieser Methode, jedoch mit einem großen Unterschied: Mit seinem neuesten Film hat sich Yimou auf komödiantisches Terrain gewagt, was sich zwangsläufig auf seinen normalerweise eher strengen Erzählstil auswirkt. Diese neue Leichtigkeit ist mit schmucklosen Bildern erkauft. Das Sozialdrama hat auch Yimous Bilder durchdrungen.

Und in manchen Momenten – etwa wenn sich die Figuren rastlos durch die Stadt bewegen auf der Suche nach etwas Bestätigung für ihre Hoffnung – erinnern Zhao und Wu wirklich an Vater und Sohn aus de Sicas „Fahrraddiebe“. Es ist diese Hoffnung, ähnlich dem Hunger in „Fahrraddiebe“, der die Figuren in Bewegung hält. Zhao braucht etwas Geld, zunächst um seine Verlobte zufrieden zu stellen, später für Wu. Im Verhältnis zur Verlobten spiegelt sich ein permanenter Kampf um den sozialen Status wider. Die Vergeblichkeit der Selbstbehauptung, die Nichtteilnahme am gesellschaftlichen Leben sind die Ursache für eine tief empfundene Scham. Der Mangel an Statussymbolen führt zu den Inszenierungen von falschem Leben.

Das Thema der Blindheit schafft ein feines Netz aus solchen Inszenierungen und Täuschungen, und dieses Netz legt sich über die ganze Struktur des Films wie eine Paraphrase auf die Ankunft Chinas im Kapitalismus. Die Täuschungen funktionieren hier entweder als Schutzpanzer gegen die Realität oder als Mittel, Machtverhältnisse zu statuieren. Die Machtverhältnisse der Figuren untereinander bedingen sich in Yimous Film und bilden eine feste Struktur, die sich selbst trägt und somit die Inszenierungen aufrecht erhält. Aber die Glaubwürdigkeit dieser Inszenierungen ist längst keine Frage von Sichtbarkeit mehr. Nur noch von Skrupellosigkeit. Am Ende erzählt Wu ihrem Zhao auf Tonband, dass sie sein Täuschungsmanöver von Beginn an durchschaut habe. Die Illusion, für einen kurzen Augenblick eine Vaterfigur gefunden zu haben, sei ihre glückliche Zeit gewesen.

Es ist dies der überzeugendste Moment des Films, insofern Yimous Dialektik der verschiedenen Machtverhältnisse beziehungsweise Inszenierungen noch einmal ganz unmittelbar auf der Erzählebene ihre Entsprechung findet. Zhaos Freunde lesen seinen im Namen ihres Vaters geschriebenen Brief an Wu vor, den sie niemals erhalten wird, während das Tonband Wus Abschiedsnachricht abspielt, die Zhao wahrscheinlich nie erreicht. Und wie bei einer Phasenverschiebung legen sich die beiden Texte langsam übereinander, werden ununterscheidbar und bilden schließlich eine dichte Textur. Zhao und Wu verweilen endlich wieder unter den Sehenden. Es kommt für beide etwas zu spät.

„Happy Times“. Regie: Zhang Yimou. Mit Zhao Benshan, Dong Lifan, Dong Lie, Fu Biao u. a., VR China 2000, 96 Minuten