Das Fett der Designer

Das World Wide Web leidet nicht daran, dass es kommerziell genutzt wird. Es könnte ein perfektes Instrument für den Einzelhandel sein, aber es wird heute noch immer völlig falsch programmiert

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Am Anfang stand eine Idee, die so elegant war, dass sie einfach gedacht werden musste. Wissenschaftler standen schon immer vor einem Berg von Texten, Aufsätzen, Fachartikeln, die kein Mensch alle lesen kann. Sie wollen sie ja auch gar nicht lesen, sondern nur die eine Information finden, die sie gerade brauchen. Bibliothekskataloge lösen das Problem nur ungenügend. Weder die Liste der Titel noch die der indizierten (oder überhaupt indizierbaren) Schlagwörter wird der Tatsache gerecht, dass Wissenschaftler keine Bücher lesen, sondern ein Problem ihres Forschungsgebietes lösen wollen. Die Texte, die sie dazu brauchen, sind keine Romane, sondern Knoten eines Netzwerkes. Sie verknüpfen Informationen zu immer neuen Konfigurationen des Fachgebiets. Forschung von Rang ist daher nur möglich, wenn sie den jeweils neuesten Stand dieses Wissensnetzes zur Kenntnis nimmt, und so ist es sicher kein Zufall, dass ein so ehrgeiziges Institut wie das Cern einem Informatiker den Auftrag gab, sich um dieses Problem zu kümmern.

Die Lösung war folgenreich. Weil sich die Texte des Cern bei genauerem Hinsehen überwiegend als Kataloge ihrer externen Quellen erwiesen, war es nahe liegend, ebendiese Quellen mit den Textstellen zu verknüpfen, die darauf verweisen. Nun musste in der Anzeige auf dem Computerbildschirm nur noch der Aufruf dieser Referenzen programmiert werden – beispielsweise durch die Option eines Mausklicks.

Falls einmal alle digitalen Dokumente diese Technik nutzen würden, so war ihren Erfindern bald klar, gäbe es keine logische Grenze dieses Netzwerks von Informationsknoten mehr. Es wäre nur beschränkt durch die Zahl der physisch verbundenen Speicherplätze, aber weil das Internet zu dieser Zeit bereits die meisten westlichen Unirechner erreicht hatte, gaben Tim Berners Lee und Robert Caillou bei einem Kaffee in der Kantine des Cern ihrem Konzept den schlichten Namen „World Wide Web“.

So berichtet es die Legende, die gerne geglaubt wird. Kaum zu glauben ist nur, dass die Webseiten, die heute das Internet füllen, auf diese Vorgeschichte zurückzuführen sein sollen. Schon der bloße Augenschein lehrt, dass sich die brillante Idee, Wissen mit möglichst geringem Aufwand für alle zu erschließen, die danach suchen, in ihr Gegenteil verkehrt hat. Die von selbst verständliche Struktur von Kontexten und Referenzen verschwindet hinter einem Design, dessen offen eingestandener Hauptzweck die Selbstdarstellung des Anbieters ist.

Schuld daran ist keineswegs die mit dem Webkonzept erst möglich gewordene Kommerzialisierung des Internets. 32 Prozent der nach der Definition der Gesellschaft für Konsumforschung „normalen User des WWW“ sind heute in Deutschland Kunden des Onlinehandels. Sie haben im Frühjahr dieses Jahres 2,6 Milliarden Euro ausgegeben (www.gfk-webgauge.com), und gegen die allgemeine Tendenz verzeichnet der Onlineeinzelhandel immer noch wachsende Umsätze. Das Web reizt sehr wohl die Kauflust. Denn auch Kunden stehen vor Bergen von Texten, die kein Mensch alle lesen kann, vor Katalogen, Produktbeschreibungen, Preislisten. Im Laden an der Straße nimmt ihnen das Verkaufspersonal diese Arbeit ab, an ihrem Computer könnten sie jenes Instrument nutzen, das erfunden wurde, um ein ein vergleichbar komplexes Informationsproblem zu lösen. Nur können sie das heute immer weniger. Nicht der Handel, sondern die Webdesigner hindern sie daran. Mit einer neuen Studie haben die international renommierten Marktforscher der Nielsen Norman Group an repräsentativen Websites nachgewiesen, dass gerade das kommerziell genutzte Web weit hinter seinen Chancen zurückbleibt.

Nielsen Norman warnen schon seit Jahren vor der Überfettung des Web mit zweckfreiem Design, dieses Mal haben sie sich ausschließlich mit der „Usability“ von Flash-Animationen beschäftigt – in der Tat ein besonders auffäliges Symptom der Fettsucht von Designern. Auch die Flashtechnik selbst war eigentlich entwickelt worden, um das Datenvolumen für animierte Grafiken in systemkonformer Weise zu minimieren. Heute dient sie auf beinahe jeder professionell aussehenden Website dazu, simple Listen anklickbarer Unterverzeichnisse mit einem Effekt auszustatten, der vor allem verbergen soll, wie primitiv die Logik ist, die dahinter steckt.

Die Ladezeiten werden dadurch verlängert statt verkürzt, ein Nutzen ist nicht erkennbar, wohl nicht einmal für die Anbieter, ganz sicher nicht für die Nutzer. Tatsächlich fällt nämlich kaum jemand auf den Trick herein. Das Team von Nielsen Norman hat seine Testpersonen vor einen normalen PC gesetzt und ihnen 46 verschiedene Websites vorgeführt, darunter auch ein paar aus deutschen Designstudios. Die Probanden sollten sehr einfache Aufgaben lösen, die sich aus dem jeweiligen Webangebot ergaben: Mal sollten sie ein Restaurant auf einem Flash-Stadtplan finden, mal Sportkleider einkaufen und Ähnliches.

Die Ergebnisse sind niederschmetternd. Nur 65 Prozent der Kandidaten waren überhaupt bereit, irgendetwas auf dem Flash-Modul anzuklicken, und gar nur 45 Prozent waren imstande, die ihnen gestellte Aufgabe auch tatsächlich zu lösen. Manchmal, schreibt das Institut in seinem Bericht unter www.useit.com/alertbox/20021125.html, war es nur „mit Gewalt“ möglich, die Testpersonen dazu zu bewegen, genau jenen Menüpunkt anzuklicken, der die verlangte Information zu liefern versprach.

In der Befragung ergab sich, dass die meisten Testpersonen Grafiken jeder Art, vor allem aber Animationen spontan für Werbung halten. Die konsequente Weigerung, ein solches Element als Wegweiser zu einer erwünschten, tatsächlich gesuchten Information zu betrachten, erscheint daher auch den Marktforschern als rational. Zu Recht erwartet niemand von einem verdächtig bunten, bei jeder Berührung mit der Maus zuckenden Logo, dass ihm eine ausschließlich an der Sache selbst orientierte Auskunft zu entlocken sei.

Die vollständigen Ergebnisse der Studie sind für 65 Doller auch im Web abrufbar – auf einer bemerkenswert transparenten Website übrigens. Die Ausgabe loht sich zweifellos, denn fast noch aufschlussreicher als der Widerwille gegen das heute vorherrschende Webdesign ist das Verhalten jener Testpersonen, die an den Flashmodulen gescheitert sind. Die meisten veruchten, auf irgendeinem anderen Weg zum Ziel zu kommen. Es gelang ihnen, wenn die Website Reste des Konzepts enthielt, das am Ursprung des Web stand. Sie waren erfolgreich, wenn sie an irgendeiner Stelle einen Kontext fanden, der ihnen verständlich machte, dass es hier sinnvoll sei, ein weiteres Dokument zu öffen – die größten Trottel vor dem Onlineladen verhielten sich dann plötzlich wie die Spitzenforscher der Hochenergiephysik, die zum ersten Mal vor einem Webdokument saßen. Sie klickten auf den Link und kamen weiter. niklaus@taz.de