Schuften in der Traumzentrale


aus Berlin SEBASTIAN HEINZEL

Christoph Käthe trägt schwarze Turnschuhe, hat eine dunkle Tolle und leichte Augenringe. Der 22 Jahre alte Praktikant muss an diesem Tag zusätzlich zu seinen üblichen Aufgaben im Sender seine Nachfolgerin einweisen. „Hier kannst du den In und Out setzen“, erklärt er der Neuen im Schnittraum. Maria Kufeld, 20 Jahre alt, hat ihren ersten Tag bei MTV in Berlin. Sie sagt, dass sie froh wäre, wenn sie nicht zu viel mit der Technik in Kontakt käme. Christoph Käthe runzelt die Stirn. Bänder kopieren, Rohmaterial sichten, Best-of-Sendungen zusammenschneiden: Er weiß aus eigener Erfahrung, dass der Alltag zum Großteil aus technischer Arbeit besteht. Maria Kufeld schaut auf die Monitore und sagt: „MTV is’ ja schon irgendwie cool, aber keine Ahnung, ob ich das alles packe.“

MTV. Die drei Buchstaben flimmern für ein Lebensgefühl. Viele Jugendliche träumen davon, für den Clipkanal zu arbeiten. Der Weg in die Trendfabrik führt fast immer über ein Praktikum. Mehr als 500 Bewerbungen gehen jedes Jahr im Personalbüro des Musiksenders ein. Mehr als ein Drittel der Mitarbeiter in den MTV-Redaktionen in Deutschland sind Praktikanten, sie produzieren einen Großteil des Programms. Einer davon ist Christoph Käthe. Für etwa 300 Euro monatlich hat er seit über einem halben Jahr für den Sender gearbeitet. Am nächsten Tag wird er die Berliner Redaktion von MTV verlassen. Das Großraumbüro befindet sich in einem Kreuzberger Loft. Die Mitarbeiter hier tragen Videokassetten mit sich herum, viele sehen aus wie die Stars in ihrem Programm: jung, stylish, bauchfreies Top. Wer fernsehkompatibel erscheint, landet schnell vor der Linse. Je authentischer ein Videojockey, ein VJ, in das ästhetische Schema passt, desto glaubwürdiger bleibt MTV für die Zielgruppe: heute telegener „Prakti“, morgen Moderator.

Christoph Käthe schließt eine Karriere vor der Kamera allerdings aus – im Gegensatz zu seiner Kollegin Maria Kufeld: „Also gut, wenn jemand sagen würde: ‚Stell dich vor die Kamera!‘, dann würde ich es machen“, sagt die Berlinerin. Eigentlich will sie ja studieren. Doch der geforderte Notendurchschnitt für ihr Wunschfach Medienwissenschaft schreckt sie ab. Um noch zugelassen zu werden, seien 16 Wartesemester nötig, aber „ich warte doch keine acht Jahre, bis ich studieren kann“, erklärt Maria Kufeld entnervt.

Eine 65-Stunden-Woche

Wie Christoph Käthe hat sie das Praktikumsangebot auf der Internetseite des Musikkanals entdeckt und sich beworben. Ihre Freunde finden es ziemlich „geil“, dass sie bei MTV arbeitet. Nur ihr Freund hat Angst, dass sie jetzt kaum noch Zeit für ihn finden wird.

Christoph Käthe rät Maria Kufeld, sich für das nächste halbe Jahr von Freunden und Bekannten zu verabschieden: „Als Prakti hat man kein Privatleben.“ Sechs Monate dauert ein Redaktionspraktikum bei MTV. Arbeitsbeginn ist um halb zehn. Christoph Käthe sagt, dass man selten vor neun Uhr abends wieder wegkommt. „Zur Blütezeit meines Praktikums hatte ich eine 60- bis 65-Stunden-Woche.“ Dazu kommen noch Drehs am Abend oder am Wochenende. Seine Mitgliedschaft im Fitnessstudio kann er seit Praktikumsbeginn kaum nutzen. Wenn er das erzählt, klingt das nicht genervt; Schuften gegen Chancen, so läuft der Deal zwischen MTV und den Praktikanten. Wer es zu etwas bringen will, sollte sich von seiner besten Seite zeigen. „Man ist doch noch so jung“, sagt Christoph Käthe, „je mehr ein Praktikant übernimmt, desto wertvoller ist er für die Firma.“

Wie wertvoll MTV die billigen Arbeitskräfte sind, zeigt das Verhältnis von 13 Praktikanten zu 19 fest angestellten Mitarbeitern. Gerade in der Krise der Medienbranche. „Praktikanten sind unabdingbar, um einen Sendebetrieb garantieren zu können“, sagt Dirk Schulz, Christoph Käthes Chef und Producer der Sendung „Select MTV“. „Du könntest es dir auf Dauer gar nicht leisten, diese Stellen zu bezahlen.“ Dafür biete der Sender ja auch was: prominente Gäste betreuen, tolle Drehs durchführen, Partys umsonst. Das Arbeitsklima in dem jungen Team ist ungezwungen, der Altersunterschied zwischen dem 22-jährigen Praktikanten und dem 30-jährigen Producer gering. „Ein Chef, mit dem du nachts durch die Clubs ziehen kannst“, sagt Christoph Käthe. Der Druck entsteht erst durch das System. Die Probanden bewähren sich durch die Verantwortung, die sie im Tagesgeschäft übernehmen. Nur wer Leistung bringt, kann mit einer Übernahme rechnen.

Christoph Käthe ist Musterpraktikant. Nach sechs Monaten verlängerte er freiwillig, weil er auf ein Volontariat spekulierte. Gerade kam das Angebot aus München. „Anfangs hatte ich noch Bedenken, dass ich anschließend zu alt bin, um ein beruflicher Überflieger zu werden.“ Mittlerweile will sich Christoph Käthe die Gelegenheit nicht mehr entgehen lassen. „Ich bin eben ein Opfer der Medien“, sagt er und grinst.

An seinem Schreibtisch klebt ein Aufkleber der Gruppe Oasis. Als MTV im Internet Karten für ein Konzert der Britpopper – in der MTV-Welt ist das ein „Showcase“ – verloste, wurde er auf das Praktikumsangebot aufmerksam. Die Tickets gewann er nicht, für das Praktikum wurde er genommen. Damit konnte er sich einen Traum erfüllen: seinen „Life-Time-Hero“ Noel Gallagher, Gitarrist und Songwriter von Oasis, persönlich zu treffen. Während seines Praktikums war Gallagher bei „Select“ zu Gast, er hatte das vorgeschlagen. Das Zusammentreffen der beiden fiel jedoch eher enttäuschend aus. Der Sänger sei distanziert gewesen, erzählt sein Fan, mit „hoch geschlossener Jacke und Sonnenbrille“. Beim gemeinsamen Foto versagte die Digitalkamera.

300 Euro im Monat

Im Redaktionsbüro läuft ein Musikvideo der No Angels. Vanessa, eine der fünf Sängerinnen, war auch einmal Praktikantin bei „Select MTV“. „Echt?“ – Maria Kufeld schaut ungläubig auf die Mattscheibe. Erst vor kurzem war die Retortenband aus der RTL 2-Serie „Popstars“ Interviewgast bei „Select“. „Die haben bestimmt noch weniger Privatleben als ein MTV-Praktikant“, vermutet sie. „Aber mehr Geld“, entgegnet Christoph Käthe. Ohne „etwas auf der hohen Kante“ hätte er sich das Praktikum nicht leisten können. Von den 300 Euro gehen bei ihm schon 250 Euro für sein WG-Zimmer drauf. Auch seine neue Kollegin kann sich das halbe Jahr nur erlauben, weil sie noch zu Hause wohnt. Sie findet es aber gut, „dass man überhaupt etwas bekommt“. Bei den meisten Praktikumsangeboten in Medienunternehmen werde unbezahltes Arbeiten als Bewerbungsgrundlage vorausgesetzt. Entlohnt werden Musikfernsehpraktikanten damit, dass sie von der ersten Minute an voll ins Tagesgeschäft integriert sind: Beiträge drehen, Interviews führen, auf MTV-Kosten durch Deutschland jetten. Der Sender lockt mit steilen Aufstiegschancen. Wer sich bewährt, übernimmt schnell die Aufgaben eines Volontärs oder Redakteurs.

„MAZ ab, bitte!“ – der Praktikant führt heute Regie bei der Produktion der wöchentlichen Best-of-Sendung. Via Lautsprecher spricht sich Christoph Käthe mit VJ Anastasia ab. Auf handlichen Kärtchen hat er die Sendeinhalte für die griechische Moderatorin aufbereitet. Gleichzeitig kommuniziert er mit dem Bildmischer neben ihm: „Wir gehen rein mit dem Out-of-Break-Bumper!“ Nach der Aufzeichnung gibt es eine Manöverkritik der heutigen Sendung und eine Vorbesprechung der morgigen Produktion. Für eine geplante Liveschaltung auf dem Innenhof fehlt es an Kameraleuten. „Gibt es nicht genug Praktis, die das machen können?“, fragt ein Bildmischer. Problem gelöst, die Liveshow bleibt im Rahmen ihres Budgets.

Hinter Christoph Käthe, an der Wand des Besprechungsraumes, hängt ein Plakat der MTV-Werbekampagne aus dem vergangenen Jahr. Das Motiv ist ein jugendlicher und tätowierter Jesus. Mit MTV-Nägeln ist er ans Kreuz genagelt. Der Slogan dazu lautet: „You better believe“.