Ich und mein G 4

Akustische Kondensstreifen und Slow Motion Sound: Das Berliner Hebbel Theater zeigt Steve Reichs und Beryl Korots Videooper „Three Tales“

Bekenntnisopergegen dentechnischen Fortschritt

von CHRISTIANE KÜHL

Es sind Bilder aus einer vergangenen Welt, mit denen „Three Tales“ beginnt: Die „Hindenburg“ schwebt durch die Luft, aufgenommen von einer Kamera, die nur den Zeppelin, den weiten Himmel und die Zwillingstürme einer Kirche einfängt. Isoliert und ebenmäßig ragen die Türme von unten in den Bildausschnitt. Dann sehen wir die „Hindenburg“ über Manhattan. Im nächsten Bild explodiert das Luftschiff. Menschen rennen in Panik fort vom brennenden Objekt, hin zum stoisch gehaltenen Objektiv. „Get this, Scotty!“, brüllt ein Journalist zu seinem Kameramann, „Get this!“

Als Steve Reich und Beryl Korot 1993 von den Wiener Festwochen den Auftrag für „ein Stück über das 20. Jahrhundert“ erhielten, waren sie sich schnell einig: Ein Stück über das 20. Jahrhundert müsste ein Stück über Technologien sein. Nichts, so der amerikanische Minimalkomponist und seine Frau Beryl Korot, habe die letzten zehn Dekaden so geprägt wie „das technische Bemühen“ der Menschen. Fast zehn Jahre hat es dann gedauert, bis sich ihre Ideen über dieses Streben und Scheitern in der Videooper „Three Tales“ manifestierten. Dass die „Hindenburg“ am Anfang des Werks steht, hat pragmatische Gründe: Die Explosion des Luftschiffs 1937 war die erste vollständig gefilmte Katastrophe. Eine Katastrophe, die bei der Erstaufführung von „Three Tales“ an der Brooklyn Academy of Music im Oktober 2002 beängstigend aktuell und zugleich noch beinahe unschuldig wirkte.

Dokumentarmaterial bestimmt alle drei Teile des 65-minütigen Werks. In „Hindenburg“ und dem anschließenden „Bekini“, das die amerikanischen Atombombentests von 1946 bis 1954 auf dem Bekini-Atoll reflektiert, sind das journalistische Bild- und Tonaufnahmen sowie Propagandamaterial und zeitgenössische Zeitungen. Für „Dolly“, das dritte „Märchen“, haben die Künstler Wissenschaftler über das Klonen interviewt. Die Aussagen dieser Talking Heads zerpflückt und rearrangiert Reich, bis etwa Prof. Richard Dawkins mit „We as all animals are machines/created by our genes“ eine Art Rap im Rondo landet.

Steve Reich, dessen in den Sechzigern entwickelte Technik des „Phasing“ die Musikwelt nachhaltig veränderte, gelingt es in „Three Tales“ erstmals, zwei andere seiner Ideen jener Zeit technisch umzusetzen. „Freeze sound“ ist das akustische Äquivalent zum Standbild und gibt dem Komponisten die Möglichkeit, einen einzelnen Vokal aus einer Rede eines Sprechers zeitlich auszudehnen und zum Teil einer Harmony zu machen. „Einen akustischen Kondensstreifen“ nennt Reich das. Slow Motion Sound erlaubt es ihm dagegen, gesprochene Sätze zu verlangsamen oder zu beschleunigen, ohne die Tonhöhe dabei zu verändern. Ein Effekt, der dem Hörer kaum bewusst wird, die Komposition aber enorm beeinflusst. Hatte Reich früher mit gesprochenen Sätzen gearbeitet, diktierte die Sprache Rhythmus und Harmonie, was permanente Harmonie- und Tempowechsel zur Folge hatte. In „Three Tales“ habe er erstmalig nach dem Prinzip „prima la musica“ gearbeitet. Die Sound-Samples wurden der Komposition für Orchester und fünf Sänger angeglichen.

Auch Beryl Korot erklärt, dass sie bei dieser Produktion erstmals technisch umsetzen konnte, was künstlerisch seit den Anfängen der Videokunst ihr Ziel gewesen sei. Mit dem Computer so verschiedene Materialen wie Foto, Film und Zeichnungen in einem einzelnen Videobild übereinander lagern zu können, sei einfach „mind blowing“. Im Ergebnis sehen ihre Collagen jedoch nicht immer nach konsequenter Ideenumsetzung aus, sondern häufig nach dem begeisterten Realisieren alles ihr technisch Möglichen. Loops, Splitscreens, Bluescreens, Masken, Kolorierungen, Schriftzüge, Animationen, Standbilder – auch dies kann man als Beispiel von technischem Overkill lesen.

Stellenweise aufdringlich ist die Verknüpfung der Bilder mit religiösen Zitaten. In „Bekini“ etwa werden unberührte Natur und Inselschönheiten gegen eiserne Generäle des Kalten Krieges geschnitten, überblendet von Sätzen aus der Genesis. Atompilz versus „Seid fruchtbar und mehret euch“ – ein wenig platt ist das schon. In solchen Momenten wirkt „Three Tales“ wie eine Bekenntnisoper gegen den technischen Fortschritt. Gemeint ist die Produktion natürlich nicht so. Steve Reich, der zu einer New Yorker Künstlergeneration zählt, die den Begriff der Avantgarde noch einmal neu für sich in Anspruch nahm, ließ eine solche Vermutung bei einer Publikumsdiskussion aufschreien: „Ich liebe Technologie! Ich liebe meinen G 4!“ Nur irgendwie sei – offensichtlich abgesehen von der Apple-Macintosh-Entwicklung – bei der Evolution einiges aus dem Ruder gelaufen.

„Three Tales“ läuft vom 6. bis 8.12. im Berliner Hebbel Theater