Alltäglicher Irrsinn

„Die Leute haben ihr Vertrauen in einen Frieden verloren“: Beim „Friedensstrukturen“- Workshop in Berlin diskutierten Filmemacher und Politiker über den Nahostkonflikt

Safuat darf nicht mit. Er klammert sich an den Rock seiner Mutter und schreit, als ginge es um sein Leben. Doch Schiam selbst hat genug damit zu tun, an den Militärposten vorbeizukommen. Ihr Haus liegt in der Schuhada Straße in Hebron, exakt auf der Grenze zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Einflussbereich. Nach dem Tod ihres Mannes hat sich die Witwe an den permanenten Ausnahmezustand gewöhnt. Die Soldaten kommen immer unangemeldet, verdrecken das frisch geputzte Treppenhaus und beziehen dann ihren Beobachtungsposten auf dem Dach. Nur die Kinder scheinen manchmal ihre Freude an den ungebetenen Gästen zu haben. Im Winter beginnen sie eine Schneeballschlacht und die Israelis steigen begeistert darauf ein. Eine willkommene Ausweitung der Kampfzone.

Der Dokumentarfilm „Asurot“ (Eingeschlossen) der israelischen Regisseurinnen Anat Even und Ada Ushpiz zeigt den alltäglichen Irrsinn in der Westjordanland. Zwei Bevölkerungsgruppen, zum Zusammenleben verdammt, üben sich in gezielten Provokationen. Wenn dieser Film die Wirklichkeit spiegelt, so hat man sich in der absurden Frontstellung längst eingerichtet. Aus den fortgesetzten Racheakten wird keine nachbarschaftliche Beziehung mehr erwachsen, die diesen Namen verdient.

Welche Chancen auf Frieden kann es noch geben, nachdem auch die letzten diplomatischen Initiativen verpufft sind und die Spirale der Gewalt sich immer weiter dreht? Der internationale Workshop „Friedensstrukturen“, ein Gemeinschaftsprojekt von Einstein-Forum und Haus der Kulturen der Welt, hatte Vertreter beider Seiten nach Berlin geladen, um unter der Leitung von Michael Naumann über alternative Wege zu einer Lösung des Nahostkonflikts zu diskutieren. Leider musste Jassir Abed Rabbo, Kulturminister der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, sehr kurzfristig absagen. So erfuhr man zwar wenig über die konkreten Umsetzungsschwierigkeiten politischer Vorgaben, bekam aber genügend Gründe dafür geliefert, solche überhaupt noch anzustreben.

Menachem Brinker, Mitbegründer von Peace Now und Professor für Philosophie und Hebräische Literatur an der University of Chicago, beklagte den Zustand der israelischen Friedensbewegung. Inzwischen bringe man nicht einmal mehr einen Bruchteil der Menschen auf die Straße, die noch vor Jahren für den Fortgang des Oslo-Prozesses demonstriert hätten. „Die Leute haben ihr Vertrauen in einen möglichen Frieden verloren“, sagte er mit Blick auf die verschärfte Lage nach dem 11. September 2001.

So begünstige der islamische Terrorismus, dass fast schon überwunden geglaubte Deutungsmuster von den Israelis als verlängertem Arm des US-Imperialismus und den Arabern als den neuen Nazis ständig neue Nahrung erhielten. Der gegenseitige Vertrauensverlust sei so groß, dass es schon immenser Anstrengungen externer Vermittler bedürfe, um wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds-Universität und wichtigster PLO-Repräsentant in Jerusalem, glaubt trotz aller Dringlichkeit nicht an ein baldiges Engagement der internationalen Staatengemeinschaft. Im Hinblick auf die jüngste Serie von Selbstmordattentaten zog er in Zweifel, dass es sich dabei um eine neue Intifada handele: „Die Bevölkerung ist im Gegensatz zum Volksaufstand von 1987 nur als Empfänger von Maßnahmen involviert. Ihr fehlt eine gemeinsame Vision und eine wirkungsvolle Strategie des zivilen Ungehorsams.“

Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland, erinnerte an die demografische Entwicklung in Palästina, die jedem Zionisten Kopfschmerzen bereiten müsse. Angesichts dessen sei ein föderales Staatsmodell, wie Nusseibeh es vorschlug, für die israelische Rechte „fern jeder Realität“. Scharon verstehe es nur zu gut, die „psychologische Dimension“ für seine Zwecke zu nutzen. Es komme also darauf an, wieder vertrauensbildende Maßnahmen einzuleiten und sich stufenweise dem Fernziel einer Zweistaatlichkeit anzunähern.

Doch dazu bedürfe es einer „Taube“ wie Amram Mitzna, dem Kandidaten der Arbeiterpartei. Der hatte für den Fall seines Wahlsieges angekündigt, einen Baustopp in den besetzten Gebieten zu verfügen und die Soldaten abzuziehen. Ein matter Hoffnungsschimmer, nicht nur für Schiams Hausgemeinschaft.

JAN ENGELMANN