Die Abseitssteher

Helden haben einen zweifelhaften Ruf. In der jüngeren deutschen Literaturproduktion steht zu lesen, dass nur eine Tugend zählt: nicht die gute Tat, sondern die klasse Performanz. Ein Abgesang auf eine selbstzufriedene Gattung

von JÖRG MAGENAU

Irgendwann in den Siebzigerjahren entdeckte Reinhard Mey, dass es keine Maikäfer mehr gibt.

Es war eine Epoche fortgesetzten Abschiednehmens. Der Wald starb, der Untergang der Welt stand unmittelbar bevor, nur die Liedermacher befanden sich in der Blüte ihres Lebens und nutzten ihre Vitalität, um den Niedergang ringsum zu besingen.

Auch die Helden starben damals aus. Helden waren alte Männer mit Orden auf der Brust, die in Kriegen für die falsche Sache gekämpft hatten. Der Wiener Liedermacher Wolfgang Ambros stimmte den finalen Trauermarsch an: „Auf sein Grob liegn Bluman / und a klans Grobliachtl brennt, / a poa Meta drunta liegt da Höld / den koana von uns kennt.“ Anonym sank er in die Grube. Der Pfarrer schüttete zum Nachspülen ein paar Gläser Rotwein hinterher.

Das war’s dann: kein weiterer Bedarf an Helden und am Heldentum. Die neue, unheroische Generation, pazifistisch gestimmt, verweigerte mit dem Heldentum auch den Kriegsdienst. Verletzlich, friedlich wollte sie sein, aber auch selbstbewusst und autonom.

Ganz ohne Helden ging es aber trotzdem nicht ab. Die Prominenten, die Woche für Woche den Fragebogen der FAZ ausfüllten, zögerten nie, ihre Lieblingshelden in der Wirklichkeit und in der Literatur zu bestimmen. In studentischen Kreisen hielt man sich an Che Guevara, den soldatischen Zigarrenraucher mit der Baskenmütze und dem roten Stern. Er verkörperte die Attribute des Helden – Männlichkeit, Stärke, gerechte Sache – so perfekt, dass er sich noch in den Neunzigerjahren großer Beliebtheit als Aufkleber und Poster erfreute.

Schwer zu sagen, ob Che Guevara in die Rubrik „Wirklichkeit“ oder „Literatur“ gehörte. Das Realitätssegment „Traum“ liegt irgendwo dazwischen, und in diesem schmalen Raum muss man nach Helden wohl suchen. In der DDR wurden fortlaufend die „Helden der Arbeit“ ausgezeichnet und in den Betrieben auf der „Straße der Besten“ versammelt. Der sozialistische Traum von einer besseren Welt war so sehr in einer kraftlosen Wirklichkeit angesiedelt, dass er nicht gelingen konnte.

Der DDR haben ihre Helden bekanntlich nichts genutzt. Trotzdem versuchte in den vergangenen Jahren der dumme, siegreiche Kapitalismus, das Heldentum wiederzubeleben. Helden wurden nun nicht mehr im Proletariat vermutet, sondern in Unternehmerkreisen. Dort erwartete man nicht ganz zu Unrecht den größeren Wagemut und Schaffensdrang. Auf den Existenzgründertagen in Berlin wurden im Jahr 1998 bunte Postkarten mit der Überschrift „Neue Helden braucht das Land“ verteilt. Gesucht wurden die „Unternehmer der Zukunft“, die sich in einer Sonderausstellung „Messe der Zukunft“ mit ihren Ideen präsentieren sollten. Die Helden der New Economy hielten sich für unbesiegbar und glaubten an das unendliche Anschwellen der Aktienkurse. Krisen gehörten einer vergangenen Epoche an.

Dabei hätte man, ausgerüstet mit einigen literarischen Grundkenntnissen, die heroischen Existenzgründer rechtzeitig warnen können: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ So sprach Brechts Galilei, einer der kanonisch gewordenen Lieblingshelden der Schullektüre. Der schulische Deutschunterricht ist einer der letzten Schlupfwinkel, an denen heutzutage noch über Helden nachgedacht wird. „Negative“ und „positive“ Helden werden dort fein säuberlich unterschieden, als sei der Charakter aus der Summe der Eigenschaften mathematisch exakt zu errechnen.

Um Harry Potter, den einzigen weltweit gehandelten literarischen Helden der Gegenwart, tobt ein Rechtsstreit, den Time Warner gegen einen Schulbuchverlag angezettelt hat. Wem gehören die Helden? Die Märchenwelt ist ein Kunstprodukt der Unterhaltungsindustrie. Wer sie betreten will, muss Tantiemen zahlen.

Für die Besichtigung der Helden werden Eintrittsgelder fällig. In der Antike und im Mittelalter tummelten sie sich noch im freien Feld: angetan mit Schwert und Helm und Heldenfaust, ausgestattet mit Tapferkeit des Herzens und mit Löwenmut. Heldenlieder, Heldengesänge, Heldensagen und Heldenepen sind jedoch literarische Gattungen, die stets einer fernen Vergangenheit angehörten. In der Moderne und mit dem Aufstieg des Bürgertums verloren die Helden ihre Heldenhaftigkeit; der Roman löste das Epos ab.

Ab sofort aber handelte die Literatur von nichts anderem mehr als von Zweifeln und Konflikten und der ewigen, unlösbaren Frage: Wer bin ich? Literatur wurde zu einem Medium der Selbsterkundung, das Schreiben zur Daseinsbewältigungsstrategie und der Autor zu einem einsamen Helden der Nacht, der seiner tristen Existenz schreibend Stunde um Stunde abtrotzte.

Das Heldentum verlagerte sich vom Text in die Wirklichkeit. Je brüchiger und fragwürdiger die literarischen Figuren gerieten, umso heroischer wirkten die Schriftsteller, die in der Lage waren, die Dämonen schreibend zu bannen. So mancher fing an zu schreiben, nicht weil er etwas zu erzählen hatte, sondern weil er ein Held sein wollte: ein Dichter, ein Schriftsteller.

Reste dieser heroischen Phase der Schriftstellerei sind heute noch zu spüren im öffentlichen Raunen, von dem diese Berufsgruppe umgeben ist. Wenn im Fernsehen über junge Dichter berichtet wird, sieht man sie meistens in Existenzialistenpose Zigaretten rauchend an Caféhaustischchen sitzen oder in schwarze Mäntel gehüllt an Uferböschungen entlangstreifen. Dichterinnen müssen so schön sein wie Filmschauspielerinnen, wenn sie am Markt bestehen wollen. Keine kann so nachdenklich im Milchcafé rühren wie Zoë Jenny. Auch der Erfolg Judith Hermanns wäre ohne das traumverhangene Bild nicht denkbar gewesen, das die junge Autorin mit romantisch geknotetem Haar und einem nach Osteuropa duftenden Pelzkragen zeigte.

Schönheit, Traurigkeit und ein kostbares Geheimnisversprechen dienen als weibliche Gegenmodelle zum männlichen Heroismus der Existenz – Qualitäten, die die Prosa von Judith Hermann in jeder Zeile verbirgt. Doch auch männliche Autoren kommen ohne Schönheit nicht mehr aus. Als der knapp achtzehnjährige Benjamin Lebert die literarische Bühne betrat, verbreitete sein Verlag in der Programmvorschau ein Hochglanzfoto, auf dem der Dichter mit sehr blondem Haar und sehr blauen Augen abgebildet war, als müsse er für Bravo posieren und David Bowie nacheifern, der zwanzig Jahre zuvor gesungen hatte: „We can be heroes / just for one day“.

Wer sich zur Popikone zurechtstilisieren lässt, kann kein Held mehr sein, allenfalls ein Hero – just for one day. Das Existenzbezwingerrenommee des Schriftstellers steht damit nach zweihundert Jahren bürgerlicher Literatur auf dem Spiel. Statt Existenz zählt die Inszenierung. Statt Pathos herrscht die Ironie, mit der auch die eigene Rolle augenzwinkernd in ihrer Schauspielerhaftigkeit vorgeführt wird.

Die Feuilletonöffentlichkeit hat sich daran gewöhnt, in Autoren Kleinunternehmer zu sehen, die ihre Produkte mit mehr oder weniger Geschick auf dem Markt platzieren und sich selbst ins Gespräch zu bringen versuchen. Die Klappentextbiografien der Autoren, die vom Taxifahren in Berlin, Fahrstuhlführen in New York, Leichenwaschen in Paris oder vom Immobilienmakeln in Bangladesch erzählen, sind zu einer eigenen Form der Fiktion geworden. Ein Autor, der sich den Künstlernamen Edgar Rai gegeben hat, wird von seinem Verlag so angepriesen: „Edgar Rai, 1967 geboren, studierte Musik, verkaufte Versicherungen und arbeitete als Model für Mercedes-Benz. Seinen Roman ‚Ramazotti‘ schrieb er in drei heißen Sommermonaten im Rotlichtviertel von Budapest nieder. Rai ist Vater einer sechsjährigen Tochter und hat vor kurzem seinen Job bei einem Internet-Start-up gekündigt, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können.“

Gegen diese lebenspralle Dichtung kann der Roman selbst nur noch verblassen. Erfahrung und Extravaganz sind alles, was zählt, und also wird das Dichterleben zur Legende. Dabei herrscht der Glaube vor, dass sich der Text, also die Literatur, bei erhöhter Erlebnisdosis von selbst ergibt. Der in sich gekehrte Dachkammerpoet, für den Einsamkeit und Liebesverlorenheit Bedingungen des Schreibens waren, wurde abgelöst vom Typus des Abenteurers, für den das Motto gilt: Lebe wild und gefährlich!

Die Richtung der Dichtung hat sich damit umgekehrt. Führte sie einst von innen nach außen und verfolgte das Ziel, die eigene Empfindsamkeit mitteilbar zu machen, so führt sie nun von außen nach innen und verfolgt das Ziel, die eigene Abgeklärtheit zu demonstrieren. Wo Innenleben war, soll Outfit werden. Individualität erweist sich nicht mehr am Reichtum der Gefühle, sondern an der Ereignismenge und der Wahrnehmungskapazität.

Nirgendwo lässt sich das besser unter Beweis stellen als unterwegs. Es ist nicht nur ein Wohlstandsphänomen im Reiseweltmeisterland Deutschland, dass das Genre der Reiseliteratur boomt. Reisen bildet. Diese Erfahrung gehört seit der deutschen Klassik zum Grundbestand bürgerlicher Lebensweisheit. Goethe begab sich in Italien auf die Suche nach der Antike und dem Kunstschönen und dem Ursprung der europäischen Kultur. Junge deutsche Autoren der Gegenwart reisen in Grenzgebiete, in gefährdete Bezirke. Sie begeben sich auf eine Marlborotrophy des Schreibens.

Jahrelang wurde ihnen mangelnde „Welthaltigkeit“ vorgeworfen. Nun schlagen sie zurück und erkunden die Welt. Globalisierung lässt sich auch auf der literarischen Ebene feststellen. Steffen Kopetzky hat dafür eine exemplarische Figur geschaffen. In seinem Roman „Grand Tour“ machte er einen Nachtwagenschaffner zum Helden und schickte ihn quer durch Europa. Reiseerzählungen legten Matthias Politycki, Michaels Roes, Christoph Peters oder Felicitas Hoppe und viele andere vor. Juli Zeh fuhr ganz allein, begleitet nur von ihrem Hund, in das ehemalige Kriegsgebiet auf dem Balkan.

Ihr Bericht „Die Stille ist ein Geräusch“ besitzt durchaus heroische Züge, auch wenn Juli Zeh behauptet, auf deutschen Autobahnen gehe es weit gefährlicher zu. Spürbar ist die Sehnsucht danach, sich in fremder Kulisse zu bewähren. Dort kann man als Held bestehen und damit in Wirklichkeitsbereiche vordringen, die in der Routine des heimischen Alltag nicht zu erreichen sind.

Auch Jochen Schmidt, Erfolgsautor der Ostberliner Lesebühnenszene, begibt sich in seinem Roman „Müller haut uns raus“ auf Reisen: nach Frankreich, Spanien und New York. Doch ganz egal, wo er sich aufhält, am liebsten sitzt er am Schreibtisch, um seine Melancholie zu pflegen und vom Dichterruhm zu träumen. Ursprünglich wollte er Rockmusiker werden. Die Sache scheiterte aber, weil Schmidt es zwar zur eigenen Gitarre brachte, aber nicht wirklich darauf spielen konnte. Schreiben war leichter. Allerdings stellte sich nun das Auftrittsproblem. Denn darum ging es doch: ein Star zu sein, ein Bühnenheld. Mit Leselämpchen und Wasserglas an einem Tisch zu sitzen, sich zu räuspern und zu sagen: Also, ich fang jetzt mal an – erschien wenig erstrebenswert.

Mit der Erfindung der Lesebühnen ist dieses Problem aufs schönste gelöst. Literatur ist damit zur oralen Kunstform geworden. Die Autorengruppen, die in Berlins Kneipen öffentlich zusammenhocken, Bier trinken und Texte vortragen, verbinden die Attitüden des Rockkonzerts mit dem Selbstdarstellungsvorteil der Literatur. Das eigene Erlebte verwandelt sich bruchlos in Text, und im Publikum sitzen viele Mädchen, die über jeden Scherz dankbar lachen.

Der Heroismus des Live-Acts kontrastiert wirkungsvoll mit dem unheroischen Dilettantismus der Darbietung und der kalkulierten Schwächlichkeit der literarischen Helden. Vorbildhaft sind sie allenfalls darin, dass sie zu Vorbildern nicht taugen. Das ist tröstlich und schafft so etwas wie Heimat. Die Generation der um 1970 im Osten der Republik Geborenen verständigt sich über die Herkunft und orientiert sich gemäß Christoph Schlingensiefs Motto: „Schöner Scheitern“.

Wladimir Kaminer hat bewiesen, dass man auch damit Karriere machen kann. All die Zweifler, Zögerer, Abseitssteher und Nichtbescheidwisser der Gegenwartsliteratur sind durchaus realistische Figuren, ironische Selbstporträts ohne Zukunftsambitionen. Die Literatur beschränkt sich in Zeiten der ökonomischen Krise auf ihre kathartische Wirkung. Sie führt vor, dass auch arme Schweine nett sein können, zumindest amüsieren, auch wenn sie selbst zu leiden haben.

Helden sehen anders aus. Helden gibt es nur noch in der Wirklichkeit – doch da sind sie erfunden und sehen aus wie Reklametafeln. Wie hieß es doch bei David Bowie: „Just for one day / we can be heroes / We’re nothing / and nothing will help us / Maybe we’re lying / Then you better not stay / But we could be safer / just for one day.“ Und weiter da capo.

JÖRG MAGENAU, 41, einst taz-Literaturredakteur, fristet ein unheroisches Dasein als freier Autor in Berlin. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete aber niemals als Taxifahrer, Fahrstuhlführer oder Leichenwäscher. Sein Text ist ein Vorabdruck aus der Wiener Zeitschrift Wespennest