Almodóvar räumte ab

Hollywood für Arme? Das war glücklicherweise nur der Rahmen der Verleihung des European Film Awards. Surrealismus, Poesie und Ironie ließen sich im Land des Neorealismus feiern

von MARINA COLLACI

Anfangs sah es alles aus wie schon einmal gesehen. Der rote Teppich, die Scheinwerfer, Journalisten und Fotografen im Pulk, die geschminkten Stars, die ihren Auftritt zelebrierten. Was wird denn hier geboten, Hollywood am Tiber?, fragten sich die ziemlich überraschten Römer, die am Samstagabend am Teatro dell’Opera vorbeikamen und von nichts wussten. Italiens Medien wenigstens hatten die Tatsache, dass die Verleihung der European Film Awards zum ersten Mal in Rom über die Bühne ging, vornehm verschwiegen.

Trotzdem barst Bürgermeister Walter Veltroni vor Enthusiasmus. Nicht weit vom Ort der Feier sei das Fahrrad aus De Sicas „Fahrraddieben“ geklaut worden, erzählte der begeisterte Cineast, und wenn es weiterführe, wäre es schnell an der Fontana di Trevi – Anita Ekbergs Badeort in „Dolce Vita“. „Vorher ist das Fahrrad doch längst von einem Auto platt gemacht worden“, lästert da eine holländische Zuschauerin. So ist das halt – früher hatte Rom Zweiräder und große Filme, jetzt hat es einen Filmpreis.

Der präsentiert sich ziemlich abgekupfert. Sogar Asia Argento, die junge italienische Schauspielerin, die durch rotziges Auftreten berühmt geworden ist, war für die Moderation in amerikanischem Stil herausgeputzt. Komoderator Mel Smith durfte – man ist ja locker, ganz wie in L. A. – den komischen Part übernehmen. Sterbenslangweilig auch das Ritual, dass jeder Preis im Duo von einem Schauspieler und einer Schauspielerin angesagt wurde: Das sichert die Präsenz von reichlich Prominenz. Und so waren denn auch alle da außer Berlusconi – und außer den „Acht Frauen“, die als beste Schauspielerinnen prämiert wurden: Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Emmanuelle Béart, Fanny Ardant, Virginie Ledoyen, Daniele Darrieux, Ludivine Sagnier, Firmine Richard.

Wenn aber die Verpackung Hollywood für Arme war, so lag die Wahl der prämierten Filme erfreulicherweise doch auf der Antiglobalisierungslinie, die Wim Wenders – Chef der vor 15 Jahren von Ingmar Bergman gegründeten Europäischen Filmakademie – ausgegeben hatte. Die Huldigung an Surrealismus und an Poesie, zu der die European Film Awards 2002 wurden, sah als großen Gewinner einen, der schon im Habitus als Gegenentwurf zum Glamourkino rumläuft: Pedro Almodóvar mit seinen wuscheligen Haaren, fast verlegen wirkenden Auftritten und kräftig spanisch eingefärbtem Englisch. Bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch – Almodóvar räumte ab. Die Grazie, mit der er in „Sprich mit ihr“ – der tragischen Liebesgeschichte zwischen einem Krankenpfleger und einer Koma-Patientin – wieder mal von der Einsamkeit, von den großen Gefühlen von Leuten mit doch ganz gewöhnlichen Problemen in ziemlich ungewöhnlichen Situationen erzählt – diese Grazie eroberte Kritik und Publikum. Gleich zwei weitere Preise gingen an den Almodóvar-Club: Den Publikumspreis Bester Schauspieler erhielt „Sprich mit ihr“-Hauptdarsteller Javier Camara, und für ihre Karriere wurde Victoria Abril ausgezeichnet.

Surreal und ironisch auch der beste nichteuropäische Film: „Divine Intervention“ des Palästinensers Elia Suleiman, der sich mit viel Mut daranmacht, die komische Seite einer schrecklichen Tragödie auszuloten und so doch nur vom Recht seines Volks auf Normalität zu erzählen: Seine Kamikaze-Helden sind groteske Kämpfer aus dem Kung-Fu-Kino.

Surreal war schließlich sogar der „Beste europäische Dokumentarfilm“: „Etre et avoir“. Sechs Monate lang wird da das Leben eines Dorfschullehrers verfolgt, der im Soloeinsatz Kinder aller Altersgruppen unterrichtet – Kinder, die auf sich gestellt Zahlenreihen pauken.

Wenig Hollywood also bei den Filmen – und wenig Hollywood schließlich auch im Saal, beim Auftritt Tonino Guerras, der seinen Preis fürs Lebenswerk abholte. Guerra – Autor von über 90 Drehbüchern, unter andrem für Fellini, Antonioni, Francesco Rosi – begann erst mal auf Russisch, weil ihm das Dauer-Englisch im Saal auf die Nerven ging, das der wunderbaren Vielfalt der europäischen Sprachen nicht Rechnung trage. Und dann schoss er seine polemischen Pfeile gegen die italienische Regierung ab. Wenigstens zehn der besten Regisseure des Landes – etwa Ettore Scola, Gillo Pontecorvo, Francesco Rosi – kämen mangels Förderung nicht mehr dazu, zu arbeiten; so sei das halt in einem Land, das die Wurzeln seines Kinos vergesse.