Mutters Land, Vaters Verse

Die tiefen Wasser der beiden Flüsse: Der brasilianische Schriftsteller Milton Hatoum erzählt in seinem neuen Roman „Zwei Brüder“ die wechselvolle Geschichte seines Landes vor dem Hintergrund einer arabischen Einwandererfamilie

„Haben meine Söhne Frieden geschlossen?“, fragt Zana vor ihrem Tod. Sie erhält keine Antwort. Yaqub und Omar, die Zwillinge, seit früher Kindheit im amazonischen Manaus verfeindet, denken nicht an Versöhnung. Zu tief waren die Kränkungen, zu unterschiedlich ihre Lebensentwürfe.

Yaqub, ein ernstes, zurückhaltendes Kind, war wegen des Bruderzwists von den Eltern in den Libanon strafversetzt worden, wo er zwar Arabisch lernte, aber seiner Heimat beraubt wurde. Nach fünf Jahren kehrte er wie ein Einwanderer nach Brasilien zurück, um seine Muttersprache neu zu erlernen und Bauingenieur zu werden. Omar dagegen, Zanas Lieblingssohn, ist mutig und draufgängerisch, ein Spieler, Frauenheld und Poet. Er ist arbeitsscheu, nicht unintelligent und lebt als Schmarotzer in der Familienvilla, wo er es sich bald mit allen anderen verdirbt – mit Ausnahme seiner Mutter.

Mit „Zwei Brüder“ legt der brasilianische Autor Milton Hatoum nach „Emilie oder Tod in Manaus“ (1989) nun seine zweite Familiensaga vor. Gefühlvoll, aber ohne sentimental zu werden erzählt er von Brasilien. So verschieden wie die Wesen der Zwillinge sind die Wasser der beiden Flüsse, die zum Amazonas zusammenfließen: der Schwarzwasserfluss Rio Negro und der Weißwasserfluss Rio Solimões. Dieser Wasserweg machte Manaus schon früh zum Hafen für die arabische Welt: Libanesen, Syrer, marokkanische Juden und Franzosen siedelten sich an.

Daraus entstand eine eigentümliche Mischung muslimischer und christlicher Glaubensinhalte, arabischer, französischer und brasilianischer Kultur, die Milton Hatoum in seinem Roman beschreibt. Die Entwicklungen Brasiliens zwischen 1914 und den 70er-Jahren – Weltkrieg, Industrialisierung, Militärputsch und Wirtschaftswunder – bilden den zeitlichen Hintergrund für das Familienleben des muslimischen Halim, der seine Frau Zana mit arabischen Versen verführte und ihr jeden Wunsch erfüllte. Seine Familie ernährt er mit einem Gemischtwarenladen.

Die Söhne Yaqub und Omar verkörpern die innerbrasilianische Teilung von Zentrum (São Paulo) und Peripherie (Manaus). Yaqub hat die Energie des aufstrebenden Einwanderers: Ohne Unterstützung durch die Familie baut er sich in São Paulo eine Existenz als Bauingenieur auf. Omar dagegen bleibt emotional und finanziell von der Familie abhängig. Trotz seiner Aufenthalte in São Paulo, den USA und einiger gescheiterter Versuche, vor der Liebe seiner Mutter zu fliehen, kehrt er immer wieder nach Manaus zuruck. Antriebslos lebt er vor sich hin und sucht sein Heil, dem Vorbild seines Lehrers, des dem Surrealismus verfallenen Dichters Antenor Laval, folgend, in der Poesie – vergeblich.

Der Wettstreit zwischen den Brüdern spitzt sich mit dem Alter zu. Ohnmächtig vor Wut, weil der Stratege Yaqub ihn übertrumpft und kühl aus der Ferne seine Rache plant, schlägt der gewalttatige Omar den Bruder bei einem Besuch in Manaus zusammen. Berichtet wird der Zwist von Nael, dem Sohn der indianischen Hausangestellten Domingas. Er fragt sich vergeblich, welcher Zwillingsbruder sein Vater ist. Irgendwann wird die Frage nach seiner Identität obsolet …

UTE HERMANNS

Milton Hatoum: „Zwei Brüder“. Aus dem Brasilianischen von Karin von Schweder-Schreiner. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, 252 S., 22,90 €