Ehrliche Nachtarbeiter

Mode designen, Trendbüros eröffnen und Drogen verkaufen: In Martin Schachts Berlin-Roman „Mittendrin“ dreht der so genannte Szenebezirk Mitte kurz vor Schluss noch einmal richtig auf

Ist hier nicht in den letzten ein, zwei Jahren alles den Bach runtergegangen?

von GERRIT BARTELS

Wenn man längere Zeit in einem der wenigen angesagten Bezirke Berlins wohnt, kann es leicht passieren, dass man diesen zu gern für den Nabel der Welt hält. Oder man verwechselt, was auch seinen Charme hat, Kreuzberg oder Mitte mit ganz Berlin. Oder eine bestimmte Szene mit einem bestimmten Bezirk. Ein Ausflug in eine mittelgroße Stadt in Deutschland oder einen Berliner Randbezirk rückt die Verhältnisse wieder zurecht – die Realität hat einen wieder, die Wahrnehmungsstörung verschwindet für eine kurze Zeit. Manchmal muss man dann sogar feststellen, dass die Welt draußen sich schneller verändert als die in den Szenekneipen wie der Ankerklause oder dem 103.

Insofern könnte auch die Bezeichnung „Berlin-Roman“ für Martin Schachts „Mittendrin“ zu leichten Missverständnissen führen: Allein räumlich bedeutet Berlin hier ein nur kleines Areal zwischen Torstraße, Friedrichstraße und der Neuen Schönhauser Straße. Schon in Kreuzberg fängt die Welt für Martin Schachts Figuren an, seltsam und fremd zu werden: Hier interessiert es doch tatsächlich kein Schwein, ob die Prada-Latschen vom letzten oder vorletzten Jahr oder ob sie überhaupt von Prada sind. Und hier sitzen doch Leute den lieben langen Tag in irgendwelchen Kneipen rum und haben überhaupt nichts zu tun! Da kann man schon mal ins Grübeln kommen.

Auch hinsichtlich der personellen Ausstattung beschränkt sich Schacht auf eine kleine Szene, die Mitte zu ihrem Hauptquartier gemacht hat. In 62 kurzen Kapiteln, die „Next Big Thing“, „Fashion Victim“ oder „Lizenz zum Shoppen“ überschrieben sind, erzählt er Anekdoten und Geschichtchen aus dem Leben einiger halbwegs junger Menschen. Sie entwerfen Mode, veranstalten Partys, verkaufen Drogen, arbeiten in Trendbüros oder führen ein Leben als alternde Stars: alles Berufe, die den eigenen Eltern nicht mehr erklärend zu vermitteln sind.

Trotzdem ist es kein leichtes Leben, das Schachts Figuren führen, ja, es ist nicht mal besonders glamourös. Sie müssen sich richtig abstrampeln, sie müssen vor allem überall dabei sein: bei den so genannten A-Events, mindestens aber bei denen eine Kategorie tiefer. Sie brauchen Mitgliedskarten fürs White Trash genauso wie die Plus-eins-Gästelisten-Plätze in den wichtigen Clubs oder die Sat.1- oder Sony-Bändchen bei den Love-Parade-Partys. Und wenn alle Stricke reißen, müssen sie wenigstens wissen, wie man sich über Seiten- oder Dienstboteneingänge Einlass verschafft. Denn jede neue Bekanntschaft könnte ein Sprung auf der Karriereleiter sein. Alles andere ist Neukölln, Büchsbier beim Spätkauf oder Fußvolk.

Martin Schacht wiederum scheint die richtige Biografie zu haben, um einen derartigen Szeneroman zu schreiben. Schacht ist, wie der Klappentext mitteilt, „bisher als Skandaljournalist, TV-Astrologe, Stylist und Ghostwriter hervorgetreten“, er hat, wie man diversen Porträts über ihn entnehmen konnte, Anfang der Neunziger Klatschkolumnen für Prinz geschrieben und Erotikfeatures für „Liebe Sünde“ gedreht. Mit anderen Worten: Man muss ihn nicht kennen. (Und es stellt sich die dringende Frage: Was macht eigentlich der ultimative Mitte-Roman von Jürgen Laarmann?)

Aber man fühlt sich gut aufgehoben bei Schacht: Ob das ein MTV-Event ist, besagte Love-Parade-Partys, die Castings für eine Fernsehsoap, der Rich-Bitch-Schick, der Violent Finish, der Early Rave, der Punk – die Settings stimmen, das Fashion-Know-how schüchtert ein, und auch Robert Altmans Film „Prêt-à-porter“ läuft als dramaturgische Blaupause bis zum gar nicht so bitteren Ende mit. So lässt man sich als Leser gern mittreiben. Man freut sich über die eine bekannte Location oder die andere bekannte Figur, man toleriert auch ein paar Albernheiten, und man fragt sich irgendwann auf seinem anderen Planeten in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg: Gibt es das denn alles noch? Ist hier in den letzten ein, zwei Jahren nicht alles den Bach runtergegangen? Ist Mitte nicht nur noch ein halb leerer Mythos mit ein paar Touristen drin? Ja, könnte es sogar sein, dass „Mittendrin“ ein Abgesang auf eine Welt ist, die kurz vor ihrem Untergang steht?

Manchmal ahnen das auch Schachts Figuren und halten reflektierend inne. Da gesteht sich einer ein, zu alt für so ein Leben zu sein, und fragt sich dann: „Warum bleiben die Dinge nicht so, wie sie sind?“ Man könnte ihm antworten: Weil die Dinge uns alle bedrohen. Und keiner ungeschoren davonkommt.

Martin Schacht: „Mittendrin“. Rowohlt PB, Reinbek bei Hamburg 2002, 220 S., 12 €