Im Dickicht der Aufrechnung

Mit seinem Buch über den Bombenkrieg gegen deutsche Städte bricht der Publizist Jörg Friedrich ein Tabu, das es gar nicht gibt. Die Gesamtschau des Grauens leidet unter seiner Neigung zu Suggestion und Gleichsetzung, während er die Frage nach deutscher Schuld allzu lapidar zur Seite wischt

von RALPH BOLLMANN

Deutsche Großstädte haben kein historisches Zentrum. Für die Generationen, die nach 1945 aufwuchsen, ist das eine selbstverständliche Tatsache. Historisch gewachsene Innenstädte, das war etwas für den Urlaub – in Rom oder Salamanca, in Prag oder Dubrovnik. Auf Reisen mochte das hübsch anzuschauen sein, aber für den Alltagsgebrauch, so ließen Eltern und Großeltern durchblicken, sei so etwas höchst ungeeignet: zu enge Straßen, zu wenig Parkplätze, zu dunkle Wohnungen.

Zu Hause gab es nicht verwinkelte Gassen und pittoreske Häuschen, sondern das vertraute Eiermann-Muster der Horten-Fassaden. Was den Krieg überstanden hatte und das geschichtslose Erscheinungsbild störte, wurde bis auf wenige Baudenkmäler rigoros abgerissen. Nicht nur „komfortabler, verkehrstüchtiger, grundertragsreicher“ mussten die neuen Städte sein, glaubt der Publizist Jörg Friedrich, dessen neues Buch über „Deutschland im Bombenkrieg“ schon seit Wochen in Deutschland und mehr noch in England kontrovers diskutiert wird. Die Bewohner hätten die „fatalen Gehäuse“ nicht mehr sehen wollen, in denen sie das Trauma der Luftangriffe erlitten.

Als Erster hat Friedrich nun das Panorama dieses Grauens in einer Gesamtschau ausgebreitet. In allen schrecklichen Details schildert er die Nächte im Keller, den Tod durch Ersticken, das Bergen verstümmelter Leichen. Plastisch beschreibt er, wie sich der Luftkrieg von den Anfängen 1940 allmählich bis zu den Flächenbombardements von 1945 steigerte, die in einer einzigen Nacht ganze Städte wie Dresden oder Würzburg vernichteten.

Plausibel legt er dar, warum die Extremsituation des Bombenkriegs die Menschen nicht – wie die Alliierten hofften – zur Revolte trieb, sondern ganz im Gegenteil enger an den totalitären Staat band, von dem allein konkrete Hilfe zu erhoffen war. Nicht den Sturz des Regimes sehnten die meisten Deutschen herbei, sondern die angekündigte „Vergeltungswaffe“.

Kaum eine Frage bleibt unbeantwortet. Das Programm zum Bunkerbau wird ebenso geschildert wie die Kinderlandverschickung oder die Evakuierung der Erwachsenen aus den bedrohten Innenstädten. Über die Reibereien zwischen der Landbevölkerung und den geflüchteten Großstädtern berichtet der Autor ebenso wie über den Justizterror gegen tatsächliche oder vermeintliche Plünderer.

Diese Verbindung von Faktenschilderung und nüchterner Analyse aus der Opferperspektive nimmt allerdings nur das letzte Drittel der Darstellung in Anspruch. Bei der Lektüre des 200 Seiten starken Mittelteils, in dem Friedrich das Schicksal jeder einzelnen Stadt mit ermüdender Detailtreue beschreibt, stellt sich dagegen Unbehagen ein. Gegen Friedrichs Idee, das jeweils Zerstörte ausführlich zu schildern, ließe sich gar nichts einwenden – glaubte er sich nicht zum Universalhistoriker berufen, der den Leser mit allzu ausgreifenden Exkursen über die deutsche Geschichte bis hin zu Karl dem Großen behelligt. Da wimmelt es auf einmal von Sachsenkaisern, Nibelungen oder Hunnen, von Gestalten also, mit denen auch die Nazis die deutsche Geschichte gerne ausschmückten. Da werden die Angriffe auf Köln plötzlich zu einer neuen „Hunnenschlacht“, und den Umgang des deutschen „Herrenvolks“ mit den osteuropäischen „Sklavenvölkern“ verharmlost Friedrich durch einen angedeuteten Vergleich mit der englischen Kolonialherrschaft.

Vollends problematisch wird es im ersten Teil des Buches, das der Täterperspektive gewidmet ist. Dort verheddert sich Friedrich in genau jenem Dickicht von Aufrechnung und Gleichsetzung, von dem er sich in allen Interviews kokett distanziert. Ob Churchills Bombenkrieg ein Kriegsverbrechen gewesen sei, müsse „jeder für sich selbst entscheiden“, verkündet er allerorten. Doch das Buch lässt nicht den geringsten Zweifel, dass Friedrich selbst diese Frage längst entschieden hat.

Um dieses Urteil auch seinen Lesern zu vermitteln, bedient sich Friedrich nicht des Arguments, sondern der Suggestion. Dass der Zweite Weltkrieg insgesamt 60 Millionen Opfer forderte, davon ein großer Teil Zivilisten, erwähnt Friedrich erst gar nicht. Dafür erklärt er die Bomberflotte mit ihren rund 500.000 Opfern umstandslos zur „schauerlichsten Waffe, die bisher je auf Menschen gerichtet wurde“ – und scheut auch vor Vergleichen mit der Atombombe nicht zurück. In Nagasaki sei nur jeder siebte Einwohner sofort gestorben, beim Pforzheimer Feuersturm dagegen jeder dritte.

Die Frage, ob die Deutschen mit ihren Angriffen auf Rotterdam und Coventry den Bombenkrieg angefangen haben, wischt Friedrich lapidar zur Seite: „Vermutlich wäre alles sowieso passiert.“ Ohne jede Einordnung präsentiert er auch die dubiose These, Churchill habe die deutsche Führung bewusst zu den Angriffen auf englische Städte provoziert, um eine Legitimation zum Losschlagen zu finden. Ohnehin will er von den Motiven der Alliierten aus damaliger Sicht gar nichts wissen, denn „für Vernichtungspolitik gibt es immer andere Erklärungen“.

Den strategischen Luftkrieg erklärt Friedrich zum „Zivilisationsbruch“, doch Auschwitz erwähnt er nur beiläufig. Einmal geht es darum, dass Roosevelt einen Luftangriff auf das Vernichtungslager ablehnte. Über die Motive erfährt der Leser nichts. Ähnlich apodiktisch verkündet der Autor: „Einen inneren Zusammenhang von Judenvernichtung und Bombenvernichtung gibt es nicht.“

Anders als Friedrich sahen die meisten Deutschen nach dem Krieg sehr wohl einen Zusammenhang zwischen Hitlers Angriffskrieg und der Zerstörung der eigenen Städte, weshalb sie ihr Schicksal zumindest im späteren Westen nicht lauthals beklagten. Dennoch ist es gänzlich unangebracht, dass sich Friedrich jetzt als Tabubrecher geriert. Jeder Schulatlas verzeichnete die zerbombten Städte samt exaktem Zerstörungsgrad, bei jeder Stadtbesichtigung wurden Fotos der zerbombten Kunstdenkmäler vorgezeigt, in jeder Familie wurde wieder und wieder von den Bombennächten erzählt. Die DDR sah ohnehin keinen Grund, die „angloamerikanischen Terrorangriffe“ unter den Teppich zu kehren. Das Tabu, das Friedrich im Nachhinein herbeireden will, hat es nie gegeben.

Jörg Friedrich: „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945“, 592 Seiten, Propyläen, München 2002, 25 €