Die vielen Tafelleiden

Mit der Ausstellung „Die öffentliche Tafel“ folgt das Deutsche Historische Museum in Berlin den tiefen Spuren eines feudalen Hofzeremoniells

Der „Aufschneider“, einst der Trancheur, hat sich bis heute in der Sprache gehalten

von CHRISTIAN SEMLER

Heutzutage ist das Gaffen dank der Glotze fast vollständig privatisiert, während zu früheren Zeiten das öffentliche Gaffen – man denke nur an Hochzeiten und Hinrichtungen – zu den Hauptvergnügen des Städters zählte. Damals, in der frühen Neuzeit, musste man nur im Hofkalender nachsehen, rechtzeitig aufstehen, ein ordentliches Wams anziehen, an der 11-Uhr-Messe teilnehmen, und schon war man um 12 Uhr Zaungast bei der öffentlichen Tafel des Fürsten.

Der Einrichtung der „Öffentlichen Tafel“ in Europa und dem mit ihr verbundenen Tafelzeremoniell hat das Deutsche Historische Museum unter der Federführung von Michaela Völkel und Hans Ottomeyer jetzt eine Ausstellung gewidmet, die letzte Woche eröffnet wurde. Wer eine dieser sterbenslangweiligen Präsentationen kostbaren Geschirrs erwartet hatte, wurde angenehm enttäuscht. Den Ausstellungsmachern gelang es, Bilder und schriftliche Zeugnisse so mit prachtvollen Einzelstücken und vollständigen Services zu kombinieren, dass sich dem Betrachter der Sinn dieses höfischen Zeremoniells erschloss.

Was aber war der Sinn? Zum wenigsten das Essen, wenn man Ottomeyer Glauben schenkt. Der Museumsdirektor sucht uns nahe zu bringen, dass die Tafel vor allem die Legitimität der fürstlichen Macht symbolisieren sollte, und dies mit friedlichen Mitteln. Es ging darum, im Akt des Teilens Gemeinschaftlichkeit zu stiften und die ständische Rangfolge in der Tischordnung wie in den verschiedenen Rollen beim Zeremoniell zu bekräftigen. Für den Vorrang der Machtsymbolisierung spricht auch, dass Reden bei Tisch verpönt und die ganze Prozedur auf eine Stunde beschränkt war. Konnte jeder der aktiven Teilnehmer der Tafel zulangen, wie es ihm behagte? Keineswegs. Für jeden Gang wurden sämtliche Schüsseln auf den Tisch gestellt, wobei die größten Köstlichkeiten den Platz des Herrschers umgaben, weshalb sich auch, wie es heute noch heißt, die Tische bogen. Saß man als geringer gestellte Persönlichkeit am Ende oder war man „herabgesetzt“ (dies der Ursprung der heute noch geläufigen Redensart), so konnte man nur auf die mit vielerlei Gerätschaften ausgestattete Bedienstetenschar hoffen. Diese Art des Servierens à la française wurde erst Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Methode à la russe ersetzt, wo die Gerichte des jeweiligen Gangs erst gezeigt und sodann kunstvoll auf alle Teller drapiert wurden. Ein Akt feudaler Gleichteilerei.

Nimmt man sich etwas Zeit, so erschließen sich beim Betrachten der diversen Tafelpreziosen eine Fülle kultur- und sozialgeschichtlicher Bezüge. So bei der vergoldeten, in drei konzentrische Dekorkreise unterteilten Schüssel, einem „Salver“ portugiesischer Herkunft, dessen erster Ring ein Ritterturnier, der zweite den Kampf der Tugenden und Laster, der dritte aber die Eroberungsfahrt der portugiesischen Flotte vor den Küsten Nordafrikas abbildet. Silberne Salzstreuer in Form von Indianerkindern unterrichten uns über die geglückte portugiesische „Landnahme“ in Amerika samt deren bekannten Folgen. Aber nicht nur kolonialer Hochmut, auch Bescheidenheit findet seinen Platz an der Tafel, wovon die mit Bacchus- und Poseidonfigürchen verzierten Wasser-Wein-Mischgeräte zeugen.

Auch Liebhaber eher entlegener Disziplinen wie der ethnologischen Erforschung der Giftmischerei kommen auf ihre Kosten. Denn die Giftprobe, die jede öffentliche Tafel begleitete, kam nicht ohne Gerätschaften wie die Natterzungenbaum-Kredenz aus, die mit durchbohrten Haifischzähnen besetzt war. Sie zeigten unfehlbar an, wenn Gift ins Getränk geträufelt worden war, ein nützliches Instrument zu einer Zeit, wo für die Hofleute der Tod durch den Becher wahrscheinlicher war als der Tod durch das Schwert.

Leider endet die Ausstellung mit dem Ende der öffentlichen Tafel, behandelt also nicht das Nachleben des Zeremoniells in der von der Bourgeoisie geprägten Gesellschaft. Hans Ottomeyer ging anlässlich seiner Führung nur den Spuren nach, die sich von der höfischen Übung noch heute in der Sprache erhalten haben – so bei dem Begriff „Aufschneider“, ursprünglich der Trancheur, der das Fleisch kunstvoll fächerförmig aufschnitt. Aber hat der bürgerliche Staat nicht auch seine symbolischen Formen, seine Zeremonien, und weisen diese nicht, teils offen, teils versteckt auf die feudalen Ursprünge zurück? In der Diskussion anlässlich der Ausstellungseröffnung konstatierte Ottomeyer, dass die heutigen Bundesdeutschen sich bei den Ritualen der Amazonasindianer besser auskennen als bei denen, die ihre eigene Geschichte bestimmten, und verwies auf das königlich-preußische Service, das lange unbeachtet im Banksafe deponiert worden sei. Mag sein, dass der konservative Geist dieser Jeremiade bei der Konzeption der Ausstellung Pate gestanden hat: In diesem Fall hätte Konservativismus mal Positives bewirkt.