Händewaschen gegen die Schreibblockade

Onanieren, Kaffee trinken oder jede Nacht drei Briefe schreiben: Einfach alles lässt sich zum Alltagsritual erheben, denn Ordnung ist das halbe Leben. Aber die Übergänge zwischen Marotten und Süchten sind fließend. Eine neue Anthologie versammelt lose Gedanken zu beliebten „Ritualen des Alltags“

von DETLEF KUHLBRODT

Weil das Leben oft schwer ist, anstatt umstandslos so dahinzugleiten, wie’s die Werbung gern hätte und man selbst ja eigentlich auch; weil man so hineingeworfen ist in die Zeit und den Zwang, irgendetwas zu machen, und man manchmal nicht weiterkommt und das Stehenbleiben panisch macht; weil der Fluss irgendwie stockt, die religiöse Bindung im Großen und Ganzen fehlt oder zunächst und zumeist eher so was privatistisch Zusammengeklaubtes ist, setzt man Rituale ein.

Rituale scheinen eine anthropologische Grundkonstante zu sein, dienen der Angstabwehr, sorgen für Halt und Struktur im Alltag, wenn sie andererseits auch häufig etwas gestört und zwanghaft ausschauen. Einerseits sind da die kleinen, angenehmen Dinge: im „I-Ging“ nachgucken, bevor man wichtige Entscheidungen trifft; zu Beginn des Frühlings im Freien ein Bier trinken; die Zeitung unbedingt vor der Arbeit lesen, weil sonst nichts klappt oder umgekehrt; sich ein Café in der neuen Stadt aussuchen, in das man immer wieder geht und genau einen Kuchen mit genau einem Kaffee nimmt. Andererseits die Dinge, die manchmal schon so leicht ins Pathologische kippen: das selbstvergessene Bohren in der Nase, bis da gar nichts mehr drin ist und man beginnt, alle Nasenhaare herauszureissen; an den Fingernägeln rumpulen; Schorf abreißen an wunden Stellen, bis alles wieder glatt ist und blutet; das wiederholte Händewaschen, Rauchen und Kaffeetrinken, bis einem schlecht wird. Im Alltagsritual sind die Übergänge zwischen kleinen Marotten und größeren Süchten, zwischen Lust und Unlust fließend. Prinzipiell lässt sich alles ritualisieren. Studenten, Arbeitslose, Freiberufler und Künstler neigen dazu eher als Festangestellte, müssen sie doch die Ordnung ihrer Tage selber herstellen.

In einer gerade erschienenen Textsammlung machen sich nun 31 Schriftsteller zumeist, aber auch Juristen, Theater- und Literaturwissenschaftler, Gedanken über die „Rituale des Alltags“. Wolfgang Hilbig („Ich“) schreibt über einen Mann, der jede Nacht drei Briefe an seine Freundin schreibt, die eine Straße weiter wohnt; in der schöntristen Geschichte von Rainer Merkel geht es um einen Reisenden, der jeden Abend im Hotelzimmer Porno guckend onaniert und sich bemüht zu kommen, bevor er mit seiner Frau telefoniert; Leander Scholz („Rosenfest“) untersucht das manische In-der-Nase-Bohren, Rauchen und Sich-am-Kopf-Kratzen und meint, das Ziel des Selbstkratzers sei es, „sich dermaßen gründlich zu kratzen, dass es keiner zukünftigen Wiederholung mehr bedarf“.

Dagmar Leupold schreibt vom Jogging im Grünen, Gisela von Wysocki berichtet von den Ritualen, die sie zwecks des Schriftstellerns betreibt, so wie der Anglistikprofessor Klaus Reichert, dem aufgefallen ist, „dass ich oft mitten in einem Satz, der nicht von der Stelle will, aufstehe, um mir grundlos die Hände zu waschen, so als könnte die Stockung durch ein Reinigungsritual überwunden werden“. Reichert stellt sich auch die interessante Frage: „Wie lassen sich Schreiben (,rein‘) und Schreibversagen (,unrein‘) an einen Tisch, auf einen Altar (,die Schlachtstatt‘) bringen?“

In den angenehm unprätentiösen und klugen Notizen von Silvia Bovenschen geht es um Übergangsrituale (zwischen Tod und Leben, Narkose und Wiedererwachen etwa); die überzeugte kleinschreiberin kathrin röggla schreibt über junge durchgedrehte männer und ihr fetischistisches plattensammlungswissen; der Komparatist Werner Hamacher, dessen berühmter Aufsatz über Kleists „Erdbeben in Chili“ einer Studentengeneration die Raffinessen dekonstruktivistischen Denkens beibrachte, kombiniert einen blinden und alzheimeresken Urgroßvater schön mit Fichte-Idealismus und Wittgensteins Satz, demzufolge es „die Methode des Philosophierens“ sei, „sich wahnsinnig zu machen und den Wahnsinn wieder zu heilen“.

Lustig-grotesk ist das dezent thomasbernhardeske Stück von Michael Lentz, das von einem Mann handelt, der jeden Tag am Kiosk steht und Monologe hält, in denen es um „Amateurtitten“ im Computer und Überraschungseier geht, die sich der Held tonnenweise kauft auf der Suche nach der letzten Figur, die ihm noch fehlt. Sie heißt „Yuri Capovolski“ und hängt angeblich verkehrtherum an einer Laterne.

Wer sich beim Titel dieses Bandes etwas wie Roland Barthes’ „Mythologien des Alltags“ vorgestellt hatte und auf präzise Analysen von Alltagsritualen gehofft hatte, wird möglicherweise ein bisschen enttäuscht sein. Zu beliebig zuweilen wirken die Geschichten, zu unterschiedlich die Genres: Dies ist toll, jenes weniger gelungen wie halt bei derlei Kompilationen so üblich. Aber Spaß macht es trotzdem. „Muss ja“, wird übrigens in Norddeutschland oft auf die Frage nach dem eigenen Wohlbefinden geantwortet und meint wohl auch etwas Ritualorientiertes.

Silvia Bovenschen/Jörg Bong (Hg.): „Rituale des Alltags“. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2002, 286 S., 19,90 €