Halbgötter in Weiß


von MATTI LIESKE

Die Vorstellung hat etwas Kurioses: Tausende von Inspektoren des Fußball-Weltverbandes Fifa schwärmen aus, um auf städtischen Bolzplätzen, an südamerikanischen Stränden, auf afrikanischen Dorfackern oder nepalesischen Gebirgsplätzen unnachsichtig Fußbälle einzukassieren, wie einst der Pedell auf dem Schulhof. Schließlich hat die Fifa den heutigen Tag zum Real-Madrid-Tag erklärt (Siehe „einstweilige verfügung“) und bestimmt, dass an diesem 18. Dezember weltweit keine Fußballspiele ausgetragen werden dürfen – außer im Estadio Santiago Bernabeu zu Madrid, wo Real heute Abend zur Feier seines hundertjährigen Jubiläums gegen eine Weltelf (mit Kahn und Ballack) antritt.

Doch zum Glück gehört der Fußball nicht der Fifa, auch wenn sie dies fest zu glauben scheint, und erst recht nicht Real Madrid. Deshalb wird die Kugel natürlich auch heute rollen, ob an der Copacabana, bei Turnieren von bunten und wilden Ligen, die mit dem offiziellen Funktionärs- und Kommerzgekicke ohnehin nichts zu tun haben wollen, oder überall dort, wo ein paar Leute gerade Lust verspüren, dem populärsten Sport dieser Welt zu frönen.

Hätschelkind der Franco-Faschisten

Aber dass ein Verein überhaupt auf die Idee verfallen kann, den Fußball einen ganzen Tag lang zu monopolisieren und dies auch noch von der obersten Instanz genehmigt bekommt, zeigt, dass es kein gewöhnlicher Klub ist, der da sein Jubiläum feiert. Wem sonst würde es einfallen, so zu tun, als hätte er allein den Fußball erfunden, wer sonst würde sich mit derartiger Selbstverständlichkeit zum Nabel der Fußballwelt erklären – wenn nicht der stolze königliche Klub aus der spanischen Hauptstadt, der in den Jahrzehnten nach dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) im Übrigen wenig Probleme damit hatte, seine Königlichkeit vorübergehend gegen eine Rolle als Hätschelklub der Franco-Faschisten einzutauschen. So wenig wie fußballerische Galionsfiguren deutscher Linksliberaler, Paul Breitner und Günter Netzer, Probleme damit hatten, zu Lebzeiten des Diktators dort anzuheuern.

In gewisser Weise haben die Madrilenen und ihr langjähriger Boss Santiago Bernabeu nämlich tatsächlich den Fußball erfunden, zumindest den modernen. Bereits in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren sie alles, was sie auch heute sind: eine Mannschaft von Fußballkünstlern, für viel Geld aus aller Welt zusammengeholt; ein Team, das den Übrigen auf geradezu unanständige Weise überlegen war, ausgestattet mit einem modernen Stadion, in dem 135.000 Menschen Platz hatten und häufig genug auch kamen; ein Dream-Team, gehüllt in weiße Trikots, wie sie europaweit plötzlich hoch im Kurs standen; eine Showtruppe, welche die Massen mobilisierte, wo immer sie erschien – angesiedelt irgendwo zwischen dem FC Santos, der mit Pelé auf Welttournee zu gehen pflegte, und den Basketballjongleuren von den Harlem Globetrotters. Di Stefanos Pässe und Hackentricks, Gentos Flügelsprints, die Gewaltschüsse eines Puskas – Real Madrid beflügelte Fußball-Fantasien. Fünf fette Jahre reichten der Mannschaft, um den 1955 geschaffenen Europapokal der Landesmeister ein für allemal unauflöslich mit ihrem Namen zu verbinden und sich in mythische Sphären zu spielen. Nicht zuletzt begünstigt dadurch, dass in weitgehend fernsehlosen Zeiten die Heldentaten mit ehrfürchtigem Raunen von Mund zu Mund überliefert wurden und etwa ein 1:1 der Halbgötter bei Besiktas Istanbul live und in voller Länge dem Fußballvolk erspart blieb.

Das blitzende Weiß der Trikots, in denen Reals Meisterkicker den Ball tanzen ließen, wurde zum Synonym für rauschenden, aber auch erfolgreichen Fußball. Jugendmannschaften, die weiße Hemdchen ausgehändigt bekamen, gingen sogleich einen Kopf größer und eine Portion selbstbewusster ins nächste Spiel, und der peinlich gescheiterte Versuch der Münchner Bayern, sich mittels neuer Oberbekleidung als „Weißes Ballett“ zu stilisieren und so auf eine Stufe mit Real zu stellen, zeigt, wie sehr der Mythos auch heute noch wirkt. „Weißes Ballett ist für mich nur Real Madrid“, wies Peter Pacult, Trainer von 1860 München, stellvertretend für viele indignierte Fußballfreunde den dreisten Vorstoß der Parvenüs von der Säbener Straße zurück.

Begonnen hatte alles 1953 mit Alfredo di Stefano, und gar so rein, wie es die Farbe der Sportkleidung suggeriert, war der Ursprung des Madrider Fußballwunders nicht. Nur dank massiver Unterstützung des streng franquistisch geführten Fußballverbandes gelang es Real, dem FC Barcelona den „Blonden Pfeil“ aus Argentinien wegzuschnappen. Einer von vielen skandalträchtigen Meilensteinen im feindseligen Verhältnis, welches die beiden erfolgreichsten spanischen Klubs bis heute pflegen.

Dieses angespannte Verhältnis hat seinen Ursprung in den Dreißigerjahren. Nach dem Sieg der Faschisten im Bürgerkrieg war die Rivalität zwischen Real und dem FC Barcelona, der treu zur Republik gestanden hatte, einige Male heftig eskaliert. Den Höhepunkt hatte ein Pokalspiel 1943 gebildet, das die Katalanen in der extrem feindseligen Atmosphäre des Bernabeu-Stadions mit 1:11 verloren. Vor dem Spiel war sogar Francos Polizei in der Gästekabine erschienen, um die Spieler einzuschüchtern, die danach dementsprechend passiv agierten. Barcelonas Torwart hielt sich das ganze Match über von seinem Strafraum fern, weil er dort mit Wurfgeschossen eingedeckt wurde.

Das Phänomen Alfredo di Stefano

Laut der jüngsten europäischen Fußballstudie sind etwa 50 Prozent aller spanischen Fußballfans Anhänger von Real Madrid. Der FC Barcelona vereint ein Viertel der Fans des Landes. Deren Hass auf den Erzfeind ist ungebrochen. Noch heute gibt es nichts Schlimmeres, als von Barça zu Real zu wechseln, was der Portugiese Luis Figo, einer der wenigen, der den Frevel wagte, bei jedem Auftritt in Kataloniens Metropole zu spüren bekommt. Der Abscheu ist beidseitig. „Wer behauptet, ich möge Katalonien nicht, der irrt sich“, sagte Santiago Bernabeu einmal, „ich liebe und bewundere es – trotz der Katalanen.“ Die Liebe und Bewunderung hatte den Real-Präsidenten 1953 nicht gehindert, Alfredo di Stefano, der schon in Barcelona trainierte und Freundschaftsspiele für den Klub bestritt, den Katalanen doch noch abspenstig zu machen, was die Weichen des europäischen Fußballs für das nächste Jahrzehnt stellen sollte.

Dirigiert von einem phänomenalen Di Stefano, gewann Real Madrid mit einer ansonsten noch rein spanischen Elf durch ein 4:3 gegen Stade Reims 1956 den allerersten Europapokal. Was Franco persönlich fast verhindert hätte. In Runde eins des internationalen Wettbewerbs musste Madrid nämlich gegen Partizan Belgrad aus dem kommunistischen Jugoslawien antreten, und diese Leute wollte der Diktator nicht ins Land lassen. Auch hier zahlten sich die guten Beziehungen Bernabeus zur Macht aus. Er überredete Franco, und Real gewann das Heimspiel mit 4:0, was auch bitter nötig war, da man in Belgrad 0:3 verlor.

Der neue Erfolgsgarant Ronaldo

In den folgenden Jahren wuchs dann jene Weltelf mit dem Ungarn Puskas, dem Franzosen Kopa, dem Uruguayer Santamaria, den Brasilianern Didi und Canario, dem Spanier Gento und natürlich dem Argentinier Di Stefano heran, die Europa faszinierte und gegen Florenz, den AC Mailand, noch einmal Reims und im Mai 1960 vor 130.000 Zuschauern im Hampden Park von Glasgow im besten Europacupfinale aller Zeiten mit 7:3 gegen Eintracht Frankfurt noch vier Mal in Folge die wertvollste Trophäe des Kontinents gewann. Die große Ära wurde ausgerechnet vom FC Barcelona beendet, der Real schon im Achtelfinale des nächsten Jahres bezwang, dann aber das Endspiel gegen Benfica Lissabon verlor. In den nächsten vier Jahren erreichte Madrid zwar noch drei Mal das Finale, doch ein fast 40-jähriger Di Stefano hatte den Stars der jungen Generation wie dem 20-jährigen Benfica-Stürmer Eusebio ebenso wenig entgegenzusetzen wie Reals althergebrachter Sturmwirbel dem Catenaccio von Inter Mailand. Nur Puskas und Gento waren vom legendären Team übrig geblieben, als 1966 gegen Partizan Belgrad der vorerst letzte Europacup-Gewinn gelang.

Mit dem Niedergang des Franco-Regimes setzte auch der Niedergang Real Madrids ein, das den Teams aus Italien, Holland, Deutschland und England die Vorherrschaft abtreten musste und lange Jahre nur von seinem Mythos zehrte. Ob mit Breitner und Netzer oder der Mannschaft um Butragueño, Michel und Hugo Sánchez – die großen internationalen Triumphe blieben aus. In Spanien war Real allerdings auch nach Francos Tod das Team des herrschenden kastilischen Zentralismus und entsprechend dominant, nicht zuletzt dank des Schiedsrichterbonus, den es – ähnlich wie Juventus Turin in Italien oder die Bayern in der Bundesliga – traditionell genießt. Jeder Fan eines anderen bedeutenden spanischen Vereins kann aus dem Stegreif ein halbes Dutzend höchst dubiose Entscheidungen aufzählen, die seinem Team einen Erfolg gegen Real kosteten. Trotz einer Reihe von Meistertiteln gelang den Madrilenen aber erst 32 Jahre nach dem Triumph von 1966 der nächste erfolgreiche Griff zur europäischen Fußballkrone – mit Jupp Heynckes als Trainer, der zum Dank eine Woche später entlassen wurde.

Die vorläufige finanzielle Sanierung durch den Verkauf des Vereinsgeländes hat es ermöglicht, dass pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum wieder eine Mannschaft das Real-Trikot trägt, die ganz nach dem Geschmack des 1978 verstorbenen Santiago Bernabeu wäre und auch in Sachen Verspieltheit den Vergleich mit den Altvorderen um Di Stefano und Puskas nicht zu scheuen braucht. Dass Ronaldo, Zidane, Figo, Roberto Carlos, Raúl und Co. ebenfalls fünfmal in Folge den Europacup gewinnen, steht indes kaum zu befürchten. Es sei denn, man verbietet allen anderen dauerhaft das Fußballspielen.