Sammler des Versprengten

Die wohl unhipste Sache der Welt: Martin Kunzler ist Autor des zweibändigen „Jazz Lexikons“, der wichtigsten Enzyklopädie des Genres in deutscher Sprache. Hausbesuch bei einem dienstbaren Geist

von ULF ERDMANN ZIEGLER

Den Namen Martin Kunzler muss man sich nicht merken: Es genügt völlig, das „Jazz Lexikon“ bei rororo zu kennen. Es hat 1.604 Seiten und reicht mit fast 2.000 Einträgen zu Namen, zu technischen und musiktheoretischen Begriffen, zu Stilen und Epochen in die Tiefen der Musik, von der die Nichtswinger sagen, sie sei zwar nicht tot, aber rieche so merkwürdig. Martin Kunzler hat dieses Lexikon geschrieben.

Und zwar zweimal. Zuerst in den Achtzigerjahren, und in den vergangenen fünf Jahren zum zweiten Mal. Nicht dass er musste: Der Verlag hatte nur um eine gründliche Aktualisierung gebeten. Kunzler aber tauchte wieder ab in ein Weltmusikgeschehen, das ihn seit seiner Jugend umtreibt. Bebop, Hardbop, Cool Jazz, Fusion: Er bedient die Begriffe, um sie zu erschüttern. Was Kunzler wirklich umtreibt, sind die Fähigkeiten und Werke von Individuen und ihr Leben: „Der Jazz ist die Geschichte seiner Persönlichkeiten.“

Der Mann, der dies sagt, sitzt an einem leeren Küchentisch einer Vorortbebauung Heidelbergs namens Pfaffengrund. Ganz in Schwarz gekleidet – „etwas beleibt, seit ich nicht mehr rauche“, wie er mich am Telefon gewarnt hat –, gibt er ein ganzes Bild: Ein hochkonzentrierter Mann von 55 Jahren mit dunkel-distinguierter Aura und alemannischer Zunge. Er verkörpert zweierlei Entwicklungen. Zum einen den Mann, der sich seiner professionellen Konstitution bewusst ist. Seinen Rat wird man so leicht nicht übergehen. Zum anderen ein nahezu unterdrücktes nervöses Temperament, das vollkommen alterlos erscheint. Es folgt der Wünschelrute in der Wahrheitssuche. Kunzler ist verblüfft von den Sätzen, die ich ihn für das Radio lesen lasse. Sie stammen von ihm selbst.

Seine erste Begegnung war Percy Heath. Der Bruder hatte ihn mitgenommen zu einer öffentlichen Probe des Modern Jazz Quartett. Es war schlechte Stimmung; John Lewis ließ Klaviere kommen und wegtragen; Milt Jackson stand heraus als vergräzter Antipode. Da hinten wirkte Percy Heath am Bass. Nach der Auffassung des Jungen, der Martin Kunzler war, „hielt der den Laden zusammen“. Im Laufe der Sechzigerjahre hat Kunzler dann in Basel Musik studiert und auf den Bass gesetzt. Da ist ein Wunsch zur Versöhnung, vermischt mit einem Hang zur Widerrede. Der Bassist Kunzler reiste progressiv mit auf der rapide „freier“ spielenden Szene und kehrte dann plötzlich um. Er fand, es fehlten die Essentials, der Durchblick, ohne den die Rhythm-Section in Richtung Blamage reitet.

Also begann er, durchreisende Oldtime-Jazzbands zu begleiten. So lernte er das Handwerk von New Orleans, und fiel heraus aus dem Namensregister der Kreativen (kein Eintrag unter seinem Namen im Lexikon). Herauszukommen als einsamer Enzyklopädist des weltweiten Jazz in deutscher Sprache – wie ist das möglich?

Es braucht jedenfalls eine spezielle Arbeitsökonomie. „Ich sitze vor dem leeren Bildschirm. Die Glocke läutet zum Essen. Da fällt mir etwas ein. Die Glocke läutet zum vierten oder fünften Mal. Ich halte in der Mitte eines Satzes an. Beim Essen denke ich die ganze Zeit über diesen Satz nach, und danach schreibe ich ihn weiter.“ Auf diese Weise verwandelt der Schreibende einen Feierabend in eine Nachtschicht. Die Workoholic-Macke, bemerkt Martin Kunzler, fällt sofort von einem ab, wenn die Sache vorbei ist. Es ist ein Zwang. Er führt zum Produkt. „Ein Jazzlexikon zu schreiben“, fasst er zusammen, „ist die unhipste Sache der Welt.“ Ein Konzertbesuch im Jazzkeller kommt nicht in Frage: dauert zu lang. Fünf Jahre Einsamkeit.

Die wichtigste Quelle bleibt das Radio. Kunzler schneidet die Fachsendungen mit, archiviert sie, macht Schnelldurchläufe für Aspiranten (des Lexikons) und studiert die Details für den einzelnen Eintrag. So heißt es über die Musik des Berliner Gitarristen Andreas Willers im zweiten Band, es wechselten „dichte Akkordik und Single-Note-Passagen, das Screaming seiner ausgeprägten Blues-Wurzeln mit intimer Jim-Hall-Poesie, elektro-akustische und elektronische Klangzauberei durch Hilfsmittel, die vom Volumenpedal bis zum Sequencer reichen, mit dem diskreten Zauber akustischer Saitenartistik ab“. Hall, James Stanley („Jim“) findet sich im ersten Band. Das Lexikon schaut von Europa und Jetzt zurück auf die Nachkriegszeit (Amerikaner in Paris und Kopenhagen) und auf die großen Quellen des amerikanischen Jazz, der laut Kunzlers Vorwort einer „oralen Tradition“ schwarzer Musik entstammt; und wie er mündlich ergänzt, schon seit den 20er-Jahren keine gänzlich schwarze Musik mehr sei. Asien, Afrika, Europa: der Jazz ist überall.

Kunzler holt mich vom Bahnhof ab in einem silbernen Kadett, den er fährt wie ein Anfänger. Er gehört seiner Frau, aber seine Frau, höre ich später, ist seine Partnerin, eine Ehe ging entzwei. Vor der Küche geht jemand ins Büro, „der Schwiegervater“ (aber ist es der Schwiegervater?). Kunzler lebte bis vor wenigen Monaten im Rotlichtbezirk Mannheims, akademischer Jazz for free in den Straßen und kein Parkplatz zu finden. Nicht, dass er seine Lebensgeschichte nicht berichtete. Er fasst sie nur etwas knapper zusammen als die anderer Bassisten.

Martin Kunzler gehört wohl zu jenen Menschen, die sich ihren Standort suchen, ihre Expertise erarbeiten, aber nicht wirklich in die Lage kommen, einen Beruf zu wählen.

Er hat sich warm gearbeitet im Feuilleton einer Zeitung im Westfälischen und ist in den Siebzigerjahren über einen PR-Posten beim Musikzweig der BASF vorgedrungen zum Produzenten bei Harmonia Mundi: frühe Musik. Zur Zeit rührt er bei Roche für die Mannheimer Tinguely-Ausstellung die Trommel, deren Sponsor sein Arbeitgeber ist. Das fällt ihm leicht. „Denn ich bin mehr ein Anarchist.“ Im schrillen Vergleich war Leonard Feather ein „jüdischer, britischer Gentleman, wie er im Buch steht. So war das auch mit der Musik: Die musste diese Gershwin-Eleganz haben, auch in moderneren Zusammenhängen.“ Kunzler stand im Austausch mit Feather, der sehr wohl auch Deutsch las. Ein anderer Chronist, den Kunzler schätzt, ist Carlo Bohländer, den Verfasser des „Jazzführers“ bei Reclam. Beim Urteil in der Musik endet dann die Gemeinsamkeit der Verschiedenen, die gestiftet wird durch Jazz.

Autor eines Jazz-Lexikons zu sein ist kein Beruf. Es ist eine lebenslange Verstrickung in Werke anderer. So etwas kann nur Menschen passieren, die Dinge schauen, von denen sie wissen, dass allein sie sie schauen.

Martin Kunzler ist halb Feuilletonist, halb Schriftsteller, soeben noch auf der Seite der Dienstleistung, der Kulturpflege, der Interpretation. Was er gelernt hat und gelernt zu fühlen, versenkte er in seinem Werk, das unter dem Gebrauchstitel „Jazz Lexikon“ ohne Illustrationen und mit etwas zu popleuchtendem Foto-Cover in zwei monströsen Taschenbüchern jetzt auf den Markt kommt. Das bringt weder Reichtum noch Ruhm. Es ist das Buch, das er schreiben musste. Man muss sich den Namen Martin Kunzler nicht merken. Aber ohne sein „Jazz Lexikon“ geht es nicht.

Martin Kunzler: „Jazz Lexikon“, in zwei Bänden. Rowohlt Taschenbuch Verlag, pro Band 14,90 €