DAS KANZLERAMT DENKT. ERGEBNIS: ARBEITSLOSIGKEIT SOLL STRAFE SEIN
: Der doppelte Lohnabstand

Das Kanzleramt hat nachgedacht. Herausgekommen ist ein Strategiepapier, das nicht viel Neues enthält. Aber manchmal lohnt es sich ja, über Altbekanntes erneut nachzudenken. Zum Beispiel findet sich in den Kanzleramtspapieren auch jene beliebte Rechnung, die nie fehlt, wenn jemand unser Sozialsystem als schwachsinnig enttarnen will. Es lebte also eine fünfköpfige Familie Mustermann im Westen, im Jahre 2001. Sie gehörte zu den Armen dieser Republik: Wenn der Vater als Alleinverdiener für einen typischen Niedriglohn von 9 Euro brutto pro Stunde schuftete, dann kam er monatlich auf 1.300 Euro. Zusammen mit Kinder- und Wohngeld summierte sich dies auf 1.750 Euro. Dieselbe Familie besaß hingegen einen monatlichen Sozialhilfeanspruch in Höhe von rund 1.850 Euro. Erst mit einem Arbeitseinkommen von 10 Euro pro Stunde hätte die Familie mehr verdient als mit der Sozialhilfe.

Was folgt daraus? Da wird das Papier unscharf. Doch die Grundbotschaft ist sehr deutlich: Es kann nicht sein, dass erwerbslose Sozialhilfeempfänger auch noch von ihrer Arbeitslosigkeit profitieren! Nein, Arbeitslosigkeit muss eine Strafe sein, und nur Leistung darf sich lohnen.

Nun ist das Interessante an dieser beliebten Modellrechnung, dass sie nur unter einer einzigen Prämisse funktioniert: Familie Mustermann muss recht viele Kinder gezeugt haben. Bei kinderlosen Alleinverdienern greift immer noch das „Lohnabstandsgebot“, das die Sozialhilfe von den niedrigsten Tarifgruppen trennt. Was sich also „lohnt“, ist gar nicht die Arbeitslosigkeit – honoriert werden die Kinder.

Und zwar nicht besonders üppig. Falls es jemand noch nicht wissen sollte: Millionäre erhalten auch Kindergeld – aber mehr als die Sozialhilfeempfänger. Denn sie erhalten keine fixe Summe, sondern können ihre Kinder von der Steuer absetzen. Das bringt beim Spitzensteuersatz mehr und hat nach einem Karlsruher Urteil sogar Verfassungsrang: Dem deutschen Staat sind reiche Kinder etwas mehr wert als arme Kinder. Es gibt also keinen Grund, sich aufzuregen; auch beim Nachwuchs ist der „Lohnabstand“ gesichert.

Armut wird in Deutschland bereits bestraft, da muss die Politik nicht nachhelfen. Aber um Fakten geht es nicht, sondern um Interessen. Und natürlich ist es eine reizvolle Vorstellung, man könnte bei den Armen sparen, indem man sie für reich erklärt. Also dürften noch viele weitere Positionspapiere folgen – und nie wird man vergessen, die fünfköpfigen Mustermanns ausführlich zu erwähnen. ULRIKE HERRMANN