Die Grausamkeit von nebenan

Mit „Einordnen“, „Ausflug“ und „Land der Toten“ inszeniert Matthias Hartmann in Bochum drei versprengte Texte von Neil LaBute an einem Abend

Die meisten Dramen fügen sich ganzdiskret in die Oberfläche des Alltags ein

Die Stücke von Neil LaBute beginnen irgendwo nebenan: im Hotel, im Museum, im Auto oder wo sich sonst das vertraute Leben abspielt. Die Figuren sprechen jene Mischung aus Satzfragmenten, Floskeln und Versprechern, die im Alltag das Normalnull der Sprachebenen bildet. „Da vorne rechts“, sind die ersten Worte in LaButes neuem Einakter „Einordnen“. Und weiter: „Okay … gut, die waren also was, zu zweit? – Ja. – Das weißt du genau, nur zwei. – Ich glaub schon, zwei, vielleicht drei. Nein, es waren zwei, ganz sicher zwei.“ Klingt wie frisch improvisiert, und innerhalb weniger Wortwechsel entsteht das Bild von Menschen, die man irgendwo schon einmal gesehen hat.

Aber die Stücke von Neil LaBute beginnen nur nebenan. Anschließend wechseln sie hinüber auf die vermischten Seiten. An die alltägliche Oberfläche steigen Grausamkeiten, die man meist nur aus medialen Welten kennt. In LaButes Erfolgsstück „Bash“ ist das Resultat frappierend: Drei Figuren offenbaren sich als Schwulen-, Kinder-, Säuglingsmörder und wirken selbst dann noch vertraut, wenn sie von ihren Taten berichten. Schon hat man sie erfahren, die Banalität des Bösen.

Doch derselbe Mechanismus bewirkt in den dramatischen Skizzen, die Matthias Hartmann jetzt in Bochum uraufgeführt hat, nur einen faden Kitzel. Die Einakter bieten das Minimum: eine Schicht Normalität – zwei Menschen unterhalten sich während einer Autofahrt – und einen effektvollen Schuss Abgrund. In „Einordnen“ gesteht eine Frau ihrem Mann eine Eskapade: Die zwei Männer, von denen zu Beginn die Rede ist, waren wohl nicht nur zwei und sind auch nicht aus Zufall in das Hotelzimmer gekommen. In „Ausflug“ begehrt ein Lehrer seine präpubertäre Beifahrerin. Doch was genau diese Menschen antreibt, was sie erleiden, wie es so weit hat kommen können, bleibt diesmal im Dunkeln. Höchstens ein wohliger Schauer stellt sich ein, weil das Verbotene so neckisch um die Ecke guckt. Nicht umsonst ist der Text von „Einordnen“ im Internet auf einer Seite mit Edel-Stimulanzien zu finden.

In der schlichten Inszenierung auf der Studiobühne des Bochumer Schauspielhauses gewinnen die beiden Stücke etwas an Volumen. Zum Beispiel durch das Mienenspiel von August Zirner in der Rolle des betrogenen Ehemanns: Die beherrschte Verzweiflung in der schmalen, starren Oberlippe, in den hängenden Augenbrauen verleiht dem Ehebruch erst seine Bedeutung.

In „Ausflug“ deutet Felix Vörtler mit einem Zornesausbruch die Vorgeschichte der Pädophilie an: Der Lehrer echauffiert sich besonders in dem Moment, als das Opfer seiner Begierde ihn für seine harte Jugend zu bemitleiden beginnt. Da muss irgendwo der Ursprung liegen. Aber letztlich können Hartmann und seine Schauspieler auch nichts daran ändern, dass die beiden Dramolette nur einen erprobten dramaturgischen Kniff vorführen

Der Bochumer Intendant und sein Dramaturg Thomas Oberender haben durchaus erkannt, dass die Reichweite der Einakter begrenzt ist. Sie haben ihnen einen dritten Text beigefügt: „Land der Toten“, uraufgeführt im September während der Benefizgala für die Opfer der Anschläge auf das World Trade Center. Das Prinzip ist dasselbe, wieder erscheint ein hässliches Ereignis auf harmloser Szenerie. Trotzdem trennt den Text einiges von den anderen beiden Stücken. Das Unheil ist weniger spektakulär: Eine Frau treibt ihr Kind ab, nicht zuletzt, weil der werdende Vater nur Desinteresse zu erkennen gibt. Und gerade, als es zu spät ist, entwickelt der Mann Gefallen an der Vorstellung vom Nachwuchs.

Der dritte Text hat den weiteren Vorzug, dass er Kontext herstellt: Der Mann ist restlos eingetaucht in die New Yorker Geschäftswelt. Er hat sich an sein Biotop angepasst. Er trinkt mit den Kollegen, wenn ein Vertrag abgeschlossen ist; er tritt an, wenn der Chef zum Frühstück ruft. Eine Schwangerschaft ist nicht vorgesehen. Er ist ein Schwein, aber er hat die Regeln nicht erfunden.

In Bochum ist er überdies liebenswert. Die Figur gewinnt ungemein an Ambivalenz, denn hier spielt Oliver Stokowski den Business-Menschen. Man kann ihm schwerlich böse sein, wie er da steht und sich mit betrübtem Blick dafür entschuldigt, schon wieder ungesundes Weißbrot zum Frühstück genossen zu haben. Natürlich macht man das nicht: Man spricht der Frau nicht nach der Abtreibung auf die Mailbox, sie könne das Kind durchaus behalten, wenn sie wolle. Doch als Kollege ist er sicherlich ein klasse Kerl.

Bald nach dem Anruf stirbt der verhinderte Vater in seinem Büro im World Trade Center. Aber nur ganz nebenbei. Das Aufschlagen der Flugzeuge ist in dieser Geschichte eben nicht die eigentliche Katastrophe. Womit Neil LaBute wieder einmal hervorhebt, dass die meisten Dramen sich ganz diskret in die Oberfläche des Alltags einfügen. Trotzdem: „Bash“ –mittlerweile an rund 30 deutschsprachigen Bühnen inszeniert und auch in Bochum im Repertoire – breitet bereits aus, was der Dreierpack „Einordnen/Ausflug/Land der Toten“ zu bieten hat. Und noch etwas mehr. MORTEN KANSTEINER