Anständige Diktatur in der Sofaecke

Auf der dunklen menschlichen Seite des Fernsehens tobt Krieg um die Fernbedienung

Weihnachtszeit, gesegnete Zeit. Es herrscht Friede auf Erden. Nicht jedoch in deutschen Wohnzimmern. Dort tobt ein erbitterter Krieg. Der Kampf um die Fernbedienung. Der doch längst entschieden ist: Vati hat die Macht!

Kalt lächelnd lässt der Herrscher aller Programme die Bilder vorbeirauschen: Christiansen – Der Chill Faktor – Rudi Völler – Ufos vom Mars – Anke Engelke – Jodie Foster – Die dicke Vera – Robbie Williams – No Angels – Skifliegen – Bayern München … schneller, schneller – ja, jaa, jaaa – alles meins!

Der Machthaber weiß: Wer die Fernbedienung in der Hand hält, bestimmt das Programm, schneidet aus der großen, langsamen Erzählung des Fernsehens eine sehr eigene und schnelle Geschichte zusammen.

Zapp nicht so rum, nicht so schnell, lass doch mal dieses Programm!“, jammert und wimmert es vom anderen Ende der Couch. Mutti! Die der dunkle Fürst des Sensors fast vergessen hätte. Aber allein macht das Hin-und-her-Schalten keinen Spaß. Zur Macht gehört ein Opfer. Das, wie in jeder guten Diktatur, den Aufstand plant. Fernsehen sei ein kommunikatives Miteinander, man müsse auch die Bedürfnisse anderer berücksichtigen, jetzt möchte ich mal, mahnt Mutti.

Die, wie der Machthaber weiß, gar keine Teilung der Macht möchte, sondern selbst herrschen will. Da hilft nur Aufrüstung, ahnt Vati und breitet ein paar Fernbedienungen auf dem Tisch aus. Wozu hat man denn diverse Video-, CD- und DVD-Geräte? Lass sie nur eine Weile damit spielen, sie gibt schneller auf, als ihr lieb ist. Hauptsache, sie wird abgelenkt. An die Fernsehmacht kommt sie jedenfalls nicht.

Und schon geht das Zappspiel wieder von vorne los. Bis zur nächsten Rebellion. Doch hat der Mann von Fernsehwelt vorgeplant. Mutti bekommt ihren Zweitfernseher. Denn der strategisch denkende Diktator weiß genau, dass im Nebenraum irgendwann dasselbe Programm wie im Wohnzimmer laufen wird. Ja, da hört man es. Zwar hat sie jetzt ihre eigene Fernbedienung, aber das wird Mutti als Freundin des kommunikativen Miteinander sicher nicht lange aushalten. Knacks, und da wird das neue Gerät auch schon ausgeschaltet. Gleich betritt sie das Wohnzimmer und unterwirft sich wieder zähneknirschend der Macht. Wenigstens ist sie dann dabei.

Zur Tarnung darf es nun mal ein Spielfilm in ganzer Länge sein. Obwohl Vati weniger das Filmgeschehen verfolgt, als der nächsten Werbepause entgegenzufiebern. Aber man muss sich beherrschen können. Und im entscheidenden Moment fixer sein. Deshalb kennt Vati den Rhythmus der Programme inzwischen genau. Jetzt! Werbung! Gelernt ist gelernt. Den Rollgriff zur Fernbedienung beherrscht Vati perfekt. Nein, du willst doch bestimmt nicht die leidige Reklame sehen, gurrt der Wohnzimmer-Saddam. Sieben Minuten zappen: Leider gibt es jetzt auf fast allen Kanälen Werbung.

Ach, wie freut sich der Herrscher erst auf die Zukunft, wie sie bereits bei Formel-1-Übertragungen auf Premiere angeboten wird. Dort herrscht Vati nicht nur über die Programme, sondern kann sogar die Kameraeinstellungen wählen. Dann übernimmt der Heimimperator endlich den Posten des Regisseurs. Auch wenn er sich dabei leicht übernimmt. Denn Vati ist ein recht ungeübter Geschichtenerzähler. Mit den vielen verschiedenen Perspektiven kommt er kaum klar. Muss er doch die Geschichte buchstäblich eigenhändig erzählen, was selbst ihm nun zu disparat gerät. Denn das Beste entgeht ihm. Er verpasst jeden Höhepunkt. Schlimmer noch: Nach stundenlangem Hin-und-her-Schalten ist nicht nur sein Daumen am Ende. Erste Hirntrübungen setzen ein. Vati wendet sich mit der Fernbedienung in der Hand nach links. Er will Mutti von der Couch zappen. Doch nichts geschieht. Ein letztes Mal drückt er den Knopf aller Knöpfe. Steif gezappt, umklammert er das knüppelige Teil, bis Mutti es seinen Fingern entwindet. Mutti macht den Scheibenwischer vor seinem Gesicht. Die Augen sind starr. Vati reagiert nicht mehr. Die Diagnose lautet: plötzliche Reizunterflutung. Das Leben hat Vati verlassen. Die Fernbedienung hat es endgültig aus ihm herausgesaugt.

MICHAEL RINGEL, 41, ist Wahrheit-Redakteur der taz und Sohn eines Fernsehtechnikers