Dabei sein ist alles

Kein Programm hat dem Fernsehen so sehr zum Siegeszug verholfen wie der Sport. Gerade Olympia oder Fußball sind Quotenriesen. Eine lange Geschichte mit Happy End

von MALTE OBERSCHELP

„In diesem Moment betritt Rudi Völler deutschen Boden!“, rief ekstatisch Rolf Töpperwien, als schritte gerade der Papst die Gangway am Frankfurter Flughafen hinab. Dabei kamen bloß zwei Dutzend Kicker von der Weltmeisterschaft aus Asien zurück, und nicht einmal gewonnen hatten sie dort. Der ZDF-Reporter hatte zuvor schon die Bilder des anfliegenden Jumbojets wie ein Weltereignis kommentiert, danach gab er bald jeden Straßennamen bekannt, an dem der Mannschaftsbus auf dem Weg zum Römer vorbeikam.

Die halbtägige Liveübertragung von der Rückkehr der Nationalmannschaft nach der WM 2002 war die vorerst letzte der seltsamen Blüten, die Sport und Fernsehen seit Jahrzehnten treiben. Natürlich waren die Quoten nicht so hoch wie beim Endspiel gegen Brasilien, aber immer noch waren ein paar Millionen Zuschauer am Schirm. Wobei die Übertragung an die Frühzeit des Fernsehens erinnerte: Denn in der ARD gab es das Spektakel ebenfalls live zu sehen.

Mangelnde Absprachen zwischen den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten waren in den Sechzigerjahren an der Tagesordnung. Bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio beschwerten sich Zuschauer, dass beide Sender die gleichen Bilder zeigten. Nur dass es damals keine dreißig weiteren Sender gab, auf die Sportfeinde hätten ausweichen können. 1963 begann das ZDF mit jener Software um Zuschauer zu buhlen, die schon bei den TV-Experimenten der Nazis das Zugpferd gewesen war und später sowohl bei der Etablierung des Privatfernsehens als auch des Bezahlfernsehens eine Hauptrolle spielen sollte: Fußball und Olympia.

Überdeutlich wurde diese Wechselbeziehung bei der Fußball-WM 1954 in der Schweiz. Der überraschende Triumph der bundesdeutschen Elf bedeutete für das Land nicht nur eine Entnazifizierung mit sportlichen Mitteln, sondern bescherte der jungen TV-Industrie einen Aufschwung sondergleichen. Während des Turniers nahm der Verkauf von Fernsehern um zweihundert Prozent zu, Anfang 1955 hatte sich die Zahl der Fernsehteilnehmer auf fast 85.000 verachtfacht.

Anlässlich von Großereignissen machten die Hersteller gezielt Werbung. „Mit Telefunken in Tokio“, hieß es 1964, und nachdem die Winterspiele 1968 in Grenoble in Farbe gezeigt worden waren, wurden die Slogans im Hinblick auf die Sommerspiele in Mexiko-Stadt noch verführerischer: „Kaufen Sie jetzt, bezahlen Sie nach der Olympiade!“

Was aber ist so faszinierend daran, Menschen dabei zuzuschauen, wie sie gerade gegen einen Ball treten, auf Brettern einen Berg hinunterfahren oder 110 Meter über Hürden springen? Warum stehen die Leute nachts um drei auf, um Männer zu sehen, die am anderen Ende der Welt im Kreis herumfahren oder sich verprügeln? Wie kommt es, dass der eherne „Tagesschau“-Termin um zwanzig Uhr bei den Winterspielen in Salt Lake City selbst Sportarten zum Opfer fiel, für die sich die nächsten vier Jahre wieder kein Mensch außer den Verwandten der Aktiven interessiert?

Genau weiß das niemand. Seit die Zeiten der großen Samstagabendunterhaltung vorbei sind, argumentieren Soziologen, seien die Sportsendungen in die Rolle der Identität stiftenden Medienereignisse gerutscht. Nur: Auch als es „Musik ist Trumpf“ oder „Am laufenden Band“ noch gab, war Livesport ein Straßenfeger. Die kollektiven Erinnerungen an die Olympischen Spiele 1972 (Heide Rosendahl, Ulrike Meyfarth, Renate Stecher) in München belegen dies.

„Dabei sein ist alles“ – das Motto der Sportler scheint für die Zuschauer am besten zu passen. Wenn eine Milliarde Menschen live zuschaut, ist die Teilnahme attraktiv, egal was gezeigt wird. Das globale Dorf, das der Medientheoretiker Marshall McLuhan vorhersah, ist in seiner olympischen Variante am ehesten Realität geworden. Es waren Sportereignisse, die in der TV-Geschichte politische Grenzen überwanden: 1958 berichtete die ARD in ihrer ersten Ostberliner Liveschaltung von der Hallenhandball-WM, 1963 folgte als Moskauer Premiere die EM der Amateurboxer.

Dabei war die Ehe von Sport und Fernsehen lange nicht so harmonisch, wie sie in der Rückschau aussieht. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren machten Sportverbände das Fernsehen für den Zuschauerrückgang in den Hallen und Stadien verantwortlich. Livespiele von der Fußball-WM 1958 in Schweden kamen nur zustande, weil der TV-Hersteller Philips ein Bürgschaft stellte für den Fall, dass nicht genug Stadionkarten verkauft würden.

Auf nationaler Ebene gab es absurde Ankündigungssperren: Selbst wenn eine Übertragung angesetzt war, wurde sie erst kurz vor Beginn publik gemacht. Mittlerweile ist klar, dass mediale und wirkliche Wirklichkeit in einer Beziehung stehen, die die Attraktivität wechselseitig erhöht. Man mag die Fußballsendung „ran“ als puren Kommerz verdammen, aber der Zuschauerboom in der Bundesliga der frühen Neunzigerjahre hat auch mit ihr zu tun.

Das Fernsehen steht aktuell gerade im Fußball als Totengräber und Seelenräuber des Sports am Pranger. Früher waren die Rollen vertauscht. Bis der Getränkehersteller Martini 1970 einen Musterprozess gegen das ZDF gewann, weil der Sender während einer Sportübertragung Werbeflächen verdeckt hatte, führte das Fernsehen einen hehren Kampf gegen die so genannte Schleichwerbung. Immer wieder wurden deshalb Sendungen abgesetzt, darunter 1968 der Große Preis von Monaco. Auch waren den TV-Leuten oft die Geldforderungen der Veranstalter zu hoch. Vom 7:1 der Gladbacher 1971 gegen Inter Mailand beispielsweise gibt es keine Bilder.

Gleichzeitig hat die Verflechtung von Sport, Fernsehen und Kommerz eine längere Tradition, als Leo Kirchs Kritiker meinen. Es waren nicht RTL oder Sat.1, die aus den altehrwürdigen Leibesübungen eine Show inszenierten, es war „Das Aktuelle Sport-Studio“ im ZDF. Weil man 1963 der drögen „Sportschau“ etwas entgegensetzen wollte, feierten Studiopublikum, Prominententalk und Torwand Premiere.

Heute diktiert das Fernsehen die Spielzeiten einer Fußball-WM, egal ob sich Diego Maradona wie 1986 in Mexiko darüber beschwert, in der Mittagshitze spielen zu müssen. Mehr noch: Mit Hilfe von Protagonisten wie Boris Becker, Henry Maske und Jan Ullrich können die Sender – zumindest für einige Jahre – Sportarten aus der Bedeutungslosigkeit zu national relevanten Identifikationsplattformen machen.

Und wenn das Internationale Olympische Komitee Beachvolleyball oder Snowboard zu olympischen Disziplinen erhebt, hat das telegene Gründe – währenddessen Spartensender wie DSF oder Eurosport selbst Holzfällen, Monstertrucks und dicke Finnen, die mit Betonklötzen werfen, unter dem Label „sportliche Ertüchtigung“ vermarkten. Nur eines ist geblieben: Die Menschen schalten ein, wenn die Eröffnungsmelodien der Sportsendungen ertönen. Von früh bis in die Nacht Olympia oder WM zu schauen ist ein gesellschaftlich legitimierter Ausnahmezustand, in dem die hoch kulturellen Vorbehalte gegen die Flimmerkiste suspendiert sind.

Sport im Fernsehen bedeutet den Glauben, etwas nicht verpassen zu dürfen, ohne zur medienkritischen Beichte zu müssen. Insofern ist TV-Sport als öffentlicher Kultus zum Religionsersatz geworden. Als die ARD 1953 eine katholische Messe sendete, diskutierten Theologen noch vehement über die Frage der „Abbildbarkeit einer Sakramentshandlung“. Die Fernsehprediger in den Sportsendungen haben, was säkularisierte Tätigkeiten wie Torschuss, 100-Meter-Lauf und Riesenslalom angeht, zum Glück weniger Skrupel.

MALTE OBERSCHELP, 34, lebt als Journalist in Freiburg und hat seine Sportaktivitäten wegen diverser Zipperlein aufgegeben