Stimmen gegen die Dunkelheit

„Er hat ein markantes Profil, eine kräftige Nase und volle Lippen“: Martina Wiemers von der Hörfilm GmbH übersetzt das Fernsehen als visuelles Medium in die Welt der etwa 155.000 Blinden und 500.000 Sehbehinderten in Deutschland

Das Bild im Kopf des Blinden entsteht durch eine akustische BildbeschreibungLücken im Dialog werden genutzt, um das Gesehene zu beschreiben

von JUTTA HEESS

Das Bild ist schwarz. Schmale Spalten öffnen sich. Das Gesicht eines jungen Mannes wird sichtbar. Seine blauen Augen blicken ernst. Weitere Spalten öffnen sich. Er hat ein markantes Profil, eine kräftige Nase und volle Lippen. Sein Kinn ist ausgeprägt. Das Gesicht bleibt halb im Schatten.

Der junge Mann ist Matt Damon. Und die Beschreibung seines Gesichts durch eine männliche Sprecherstimme ist der Beginn der Hörfilmversion von „Der talentierte Mr. Ripley“. Martina Wiemers stoppt den Videorecorder. „Es ist wichtig, dass der Blinde die Sprecherstimme direkt in ein Bild im Kopf umsetzen kann.“ Martina Wiemers ist Hörfilmproduzentin. Sie sorgt dafür, dass auch Menschen, die nicht sehen – und schon gar nicht fernsehen – können, in den Genuss von Spielfilmen, Krimis und Serien kommen.

In ihrem Büro in den Räumen der gemeinnützigen Hörfilm GmbH in Berlin beschreibt sie den komplizierten Prozess, der notwendig ist, um den 155.000 Blinden und 500.000 Sehbehinderten in Deutschland ein visuelles Erlebnis zugänglich zu machen.

Der junge Mann ist Ende zwanzig. Er hat dunkelblondes, im Nacken kurz geschnittenes Haar. Vorne fällt es ihm mit einem weichen Schwung in die Stirn. Er trägt einen schwarzen Dufflecoat. Der talentierte Mr. Ripley.

Das Bild im Kopf des Blinden entsteht durch eine akustische Bildbeschreibung, die Audiodeskription. Der in Dialoglücken eingesprochene Text schildert Handlung und Ausstattung des Films sowie Mimik und Gestik der Schauspieler. Dass man hierzu nicht einfach die Sätze aus dem Drehbuch übernehmen kann, wird schnell deutlich: „Die Beschreibungen müssen sehr präzise sein, damit sich ein Nichtsehender tatsächlich eine Vorstellungen von den Filmbildern machen kann. Andererseits kann der Blinde, dessen Gehör ja trainiert ist, viele Schlussfolgerungen aus Geräuschen ziehen. Der Film darf nicht mit Text überfrachtet werden.“ Filigran müsse eine Audiodeskription sein, sagt Martina Wiemers.

Könnte ich doch nur noch einmal von vorne beginnen. Könnte ich nur alles auslöschen. Angefangen mit mir selbst. Angefangen mit der geliehenen Jacke.

Damit der Blinde auch wirklich weiß, wer hier gerade spricht, beschäftigt die Hörfilm GmbH sechs blinde Filmbeschreiber. Gemeinsam mit 19 Sehenden sorgen sie dafür, dass die Audiodeskription tatsächlich dem Zuschauer ohne Augenlicht einen Zugang zum Film ermöglicht. Einer von ihnen ist Dietrich Plückhahn. Seit seinem 23. Lebensjahr ist er blind. In den letzten vier Jahren hat er viele Filme in Worte gefasst. Zum Beispiel „Buena Vista Social Club“, „Dancer in the Dark“, „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ und „Pippi Langstrumpf“. „Meine schwerste Aufgabe war ‚Der Name der Rose‘ “, sagt Plückhahn. Das mittelalterliche Setting und das große Personenarsenal – die richtigen und vor allem knappen Beschreibungen dafür zu finden sei für ihn und seine sehenden Kollegen eine Herausforderung gewesen. „Lauter glatzköpfige Mönche in schwarzen Kutten“, erinnert sich Plückhahn. „Aber prinzipiell ist alles beschreibbar.“ Er betont, dass der Text sowie die Sprecherstimme der Filmatmosphäre gerecht werden müssen. „Die Audiodeskription darf nicht ablenken.“

Der junge Mann, jetzt mit großer Hornbrille, spielt konzentriert auf einem Flügel. Um ihn herum eine vornehme Gesellschaft. Die Damen tragen lange Kleider, die Herren Smokings. Sie halten Drinks in der Hand.

Und Martina Wiemers ergänzt: „Der Sprecher darf nicht interpretieren, aber auch nicht zu sachlich und emotionslos sein.“ Die Hörfilm GmbH, die 2001 aus einem Projekt des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) hervorgegangen ist, produziert Hörfilme für ZDF, MDR, SWR, Arte und 3sat; der Bayerische Rundfunk hat als einziger Sender eine eigene Hörfilmredaktion.

Momentan werden im deutschen Fernsehen in einer Woche etwa fünf Hörfilme ausgestrahlt, die Audiodeskription wird auf den zweiten Tonkanal gelegt. „Unser Ziel ist ein Hörfilm pro Tag. Und für 2004 wäre ein neuer Hörfilm pro Tag – also keine Wiederholung – erstrebenswert.“ Martina Wiemers weiß, dass das nicht einfach wird: „Beim derzeitigen Sparzwang verzichten die Sender natürlich am ehesten auf so eine Randgruppenthematik.“ Wobei die Produktionskosten für einen Hörfilm unter 5.000 Euro lägen.

Ein älterer, hagerer Mann mit militärisch kurzem Haarschnitt hört aufmerksam zu. Er hält die Hand seiner Frau, die neben ihm im Rollstuhl sitzt. Die Gesellschaft befindet sich auf der Dachterrasse eines Hochhauses. Tropische Pflanzen säumen die Terrasse.

Auch das will beschrieben sein. Damit Blinde, die gerne fernhören, auch mitbekommen, wann ein Hörfilm wo läuft, wurde eine Info-Hotline eingerichtet. Manche Fernsehzeitschriften machen auch mit einem kleinen Augensymbol auf die Filme aufmerksam. „Aber Fernsehzeitschriften sind für uns Blinde nur ein Sekundärmedium“, erklärt Dietrich Plückhahn. Da ist es mit ihr wie mit dem Film: Sie nutzt dem Nichtsehenden nur etwas, wenn ihm jemand daraus vorliest.