Was schenken?

von STEFAN KUZMANY

Es ist so weit. Spätestens heute Abend werden Sie sich nicht mehr drücken können. Die Geschenke müssen her. Ihre konsumkritische Haltung in allen Ehren, aber die gilt heute nicht mehr. Sie haben den Heiligen Abend verpennt, geben Sie es zu. Trotzdem gilt: Alles wird gut. Befolgen Sie nur die folgende Gebrauchsanleitung.

1. Stehen Sie nicht zu spät auf!

Sehen Sie auf die Uhr. Haben Sie gestern Abend eine Menge alter Freunde getroffen, die Sie leider, leider – meist jedoch: zum Glück – nur einmal im Jahr sehen? Haben Sie etwa einen über den Durst getrunken? Mit anderen Worten: Ist es bereits nach zwölf Uhr mittags? Dann haben Sie Pech. Die meisten Geschäfte haben schon geschlossen. Vielleicht hat der Buchladen in der Bahnhofstraße ja doch noch bis 14 Uhr auf. Rufen Sie an! Ist der Buchladen zu, und sein Anrufbeantworter wünscht bereits ein gutes neues Jahr?

2. Begeben Sie sich zum Bahnhof!

Begeben Sie sich direkt dorthin. Auf dem Bahnsteig werden Sie Zeuge rührender Familienszenen sein. Lassen Sie sich davon nicht ablenken. Sie brauchen Geschenke. Schlagen Sie sich durch das Gedränge. Betreten Sie eine Filiale des örtlichen Bahnhofsbuchhandels. Sie werden dort verwandten Seelen begegnen: Hastig suchenden, wirr und ratlos zwischen den Regalen hin- und hertigernden, blassen Gestalten. Suchen Sie Geschenke. Bücher sind immer gut. Nichts Passendes dabei?

3. Begeben Sie sich zum Flughafen!

Hier haben noch mehr Geschäfte geöffnet als am Bahnhof. Das Gedrängel wird allerdings wohl auch noch etwas größer sein. Wühlen Sie sich durch die wogende Menge abfliegender Urlauber und ankommender Feiertagsbesucher. Suchen Sie eines der zahlreichen Bekleidungs-, Elektronik- oder Delikatessengeschäfte auf. Wundern Sie sich nicht: Man hat hier nicht etwa Anfang des Jahres vergessen, die Währung umzustellen und die Ware neu auszupreisen. Die Preise sind alle in Euro und stimmen so. Kein Bargeld dabei? Zahlen Sie mit Kreditkarte. Keine Karte?

4. Sie haben jetzt nicht mehr ganz so viel Zeit.

Beeilen Sie sich also. Wann gibt es eigentlich Essen? Sie sollten auf keinen Fall zu spät zurückkommen. Nicht an Weihnachten. Denken Sie nach. Woher könnten Sie jetzt noch Geschenke bekommen? Könnten Sie nicht reumütig und zerknirscht erklären, dass Sie es einfach nicht geschafft haben? Und dass dafür diesmal Sie sich darum kümmern werden, den Baum zu schmücken? Da wir gerade dabei sind: Wer wollte eigentlich den Baum besorgen? Sie?

5. Sie brauchen noch einen Baum.

Machen Sie sich keine Sorgen. Der Weihnachtsbaumhandel ist auf Leute wie Sie gut vorbereitet. Bis zur letzten Minute werden die Händler versuchen, die nur für diesen Tag gezüchteten und geschlagenen Bäumchen loszuwerden – garantiert auch auf einem Supermarktparkplatz in Ihrer Nähe. Es sind allerdings nicht die schönsten Exemplare, die noch zum Verkauf stehen. Drehen Sie die am wenigsten hässlichen Kandidaten: Gibt es eine Perspektive, aus der der Stamm nicht krumm aussieht? Nein? Also kein Baum dieses Jahr. Sie widersprechen?

6. Sie wollen also den Baum stehlen?

Ja, haben Sie etwa nicht Marx’ „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz“ gelesen? Dann ist dafür jetzt auch keine Zeit mehr. Da Ihnen aber offenbar schon alles egal ist, besorgen Sie sich also möglichst schnell eine Axt und/oder eine Säge. Während Sie den Baum damit destabilisieren, sollten Sie laut „Achtung!“ in den Wald rufen, damit Spaziergänger sich vorsehen und nicht vom fallenden Baum erschlagen werden. Oh, das mit dem Rufen sollten Sie vielleicht besser doch unterlassen: Man wird Sie noch erwischen. Man hat Sie schon erwischt?

7. Machen Sie, dass Sie nach Hause kommen!

Das wird gar nicht so schwer, Sie werden sehen. Den Anruf bei Ihrem Anwalt können sie sich sparen. Der ist sowieso nicht in seiner Kanzlei. Nein, er will jetzt auch nicht daheim angerufen werden. Sie brauchen ihn auch nicht: Nachdem die Beamten Ihre Personalien aufgenommen haben, werden sie Sie schnell gehen lassen, so nach anderthalb bis zwei Stunden etwa. Diskutieren Sie nicht unnötig über die Beschlagnahme Ihrer Werkzeuge. Nein, den Baum dürfen Sie auch nicht behalten.

8. Machen Sie ein originelles Geschenk!

Was das ist? Viele Möglichkeiten haben Sie jetzt nicht mehr. Es ist 21.40 Uhr und Heiligabend. Es bleibt Ihnen nur noch eine Lösung: Setzen Sie Ihr liebevollstes Weihnachtslächeln auf und schenken Sie sich Ihren Liebsten selbst zu Weihnachten. Die Freude und Überraschung wird groß sein: Um diese Zeit hat niemand mehr mit Ihnen gerechnet.