Der Schrank als Welttheater

Wildheit, neu konstruiert: In der Esslinger Villa Merkel untersucht der amerikanische Künstler Mark Dion die Prinzipien des Sammelns und Präsentierens von Naturalien. Die Schau „Encyclomania“

Mark Dion möchte unsere „merkwürdige Beziehung zur Natur“ begreifen

von GABRIELE HOFFMANN

Ein ausgestopfter Wisent macht zurzeit die Honneurs in der Esslinger Villa Merkel. Was ist passiert? Ein Naturkundemuseum ist pleite und evakuiert seine besten Stücke in ein Kunstmuseum? Mitnichten. Es ist die Galerie der Stadt Esslingen, die aus freien Stücken ihr Haus dem Künstler Mark Dion weit öffnet für seine Recherchen zur Geschichte der visuellen Repräsentation von Natur. Und weil Dion Amerikaner ist, 1961 in New Bedford, Massachusetts, geboren, sieht das fahrbare Diorama mit dem Wisent in freier Wildbahn aus wie ein Hybrid aus Bau- und Planwagen.

In dieser Umrüstung lässt sich die alte europäische Konstruktion von Wildheit leicht auch an andere städtische Orte transportieren. Die naturgeschichtlichen Museen mit ihren verglasten Naturalienschränken, die in der Zeit der Aufklärung die fürstlichen Naturalienkabinette ablösten, wirken im Zeitalter digitaler Repräsentationstechniken selbst wie Fossilien.

Mark Dion erlebt sie jedes Mal wie eine Zeitreise, die ihm unterschiedliche Ideen von Natur und unterschiedliche Weisen ihrer Darstellung bietet.

Seine Arbeiten in der Esslinger Ausstellung zeigen in ironischer, manchmal auch sarkastischer Brechung die alten Prinzipien des Sammelns und Präsentierens von Naturalien nach Klassen.

„Theatrum Mundi: Armarium, 2001“, der Schrank als Welttheater präsentiert ein menschliches Skelett in einer Vitrine, zu beiden Seiten verglaste Holzschränke, voll gestopft mit allem, was so ein bürgerliches Möbel fassen kann. Auf dem untersten Bord Tierschädel, Steine und Kristalle, darüber Madonnenfiguren, Uhr und Zollstock, noch einen Stock höher Lehrbücher, vermischt mit Gruselliteratur, und das Ganze bekrönt von aktuellem Plastiknippes.

Selbst der Arbeitsplatz eines ökologisch leicht überkandidelten Tropen-Ökologen, ein Tisch aus zusammengebunden Ästen und Zweigen, beladen mit gefüllten Glasröhrchen in Schachteln, hat Platz in Mark Dions weltoffener „Encyclomania“. Eine von ihm selbst als „ortssensitiv“ eingestufte Arbeit ist die zur Ausstellung entstandene „Library for the Birds of the Villa Merkel“. Wie ein üppig behängter Weihnachtsbaum füllt das zur Bibliothek mutierte Geäst den Raum (siehe Seite 17 dieser Ausgabe). Eine Kollektion von Jägerhüten am Hauptstamm, Reihen von Büchern auf krummen Ästen, benutzte Vogelkäfige an Zweigen baumelnd und über dem Wurzelbereich aufgehäuft weitere ornithologische Buchweisheiten.

Man schaut durchs Fenster in den Park der Villa und ist versucht, in der „Library“ ein Plädoyer für den Erhalt von Oasen mit Vogelgezwitscher zu sehen. Doch Dions Arbeiten sind vielschichtiger. Sie gründen auf dem Bewusstsein, dass es keine von unserem Denken und unseren Sehweisen abgekoppelte Natur gibt.

Im Sommer 2002 realisierte der Künstler in Hamburg die „Biologische Forschungsstation Alster“. Die Arbeit ist in der Ausstellung durch ein Modell des dabei verwendeten Lastkahns und durch Zeichnungen präsent. Die auf dem Kahn errichtete Holzhütte wurde als Forschungslabor für Wasseruntersuchungen ausgestattet. Der Kunstcharakter des Projekts, an dem Naturwissenschaftler, Künstler, Schüler und Umweltaktivisten teilnahmen, ergab sich aus der museal anmutenden Inszenierung nützlicher ökologischer Arbeit.

Die Beschäftigung mit den historischen Formen des Umgangs mit Natur ist für Dion ein viel versprechender Weg, unsere gegenwärtige „merkwürdige Beziehung zur Natur“ in ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Kräften zu begreifen. Aber man muss diesen theoretischen Hintergrund nicht kennen, um ein so lakonisches Bild wie „Water Foul“ zu verstehen: drei Enten, ausgestopft, geteert und gefedert hängen zusammengebunden von der Decke. Wie ein geschwärztes Jagdstillleben des 17. Jahrhunderts.

Teer gehört zu Mark Dions bevorzugten Materialien. In „Deep Time Closet“ gibt es eine mitten im Raum stehende Treppe. Sie veranschaulicht die erdgeschichtlichen Perioden vom Kambrium bis zum Quartär. Auf den Treppenstufen dickflüssiger Teer, sein Weg vorwärts ist ein Abwärts. Und aus zeitlicher Perspektive ein Rückschritt.

Bis 2. FebruarEin Katalog ist in Vorbereitung