Immer weiter und weiter

Hier ein Bier, dort ein Chantré oder Pfeffi, hier Kirsch oder Whiskey, dort ein Bier: Wie schwer es sein kann, sich als studentischer Weihnachtsmann zu verdingen. Eine Geschichte aus gegebenem Anlass

von ANDREAS KAMPA

Kurz vor drei, gleich muss ich los, nur noch eine Zigarette, dann aufs Fahrrad und ab geht’s. Ich radle an ein paar Passanten vorbei, sie winken mir zu, ich winke zurück, ein vorbeifahrendes Auto hupt, ich winke noch mal, es weihnachtet. Meine erste Station. Ich bin etwas früher da als verabredet und klingele am Gartentor. Eine Frau kommt heraus. „Sie kommen ja früh.“ – „Ja, ich habe noch viel vor heute.“ Der Opa ist noch nicht da, er holt noch schnell das teure Geschenk, ein Fahrrad. Ich lege inzwischen die anderen Geschenke in meinen Sack. Wo bleibt denn der Opa? Es wird langsam Zeit, ich habe einen engen Terminplan. „Was macht der denn so lange? Der sollte sich doch beeilen, das gibt’s ja nicht.“

Der Opa kommt nicht. Ich gehe jetzt einfach rein. „Frohe Weihnachten! Der Weihnachtsmann ist da. Wohnen hier die artigen Kinder?“ Die Sündenkartei wird kurz abgearbeitet, jetzt noch ein Gedicht, Bescherung. Wo bleibt der Opa? Egal. Ich muss los. Ab aufs Fahrrad und weiter. Unterwegs noch mal winken, ein kleines Kind bekommt einen Bonbon. Ein junges Mädchen lacht mich an. Ich lache zurück. Ach so, der Bart, sie kann nicht sehen, dass ich lächle. War sie denn auch schön artig? Ja, sie war. Na gut, sie bekommt einen Bonbon. Sie lacht, ich lache, ach so der Bart. Scheißbart.

Zweite Station. Vor der Tür zwei Säcke, einen über die Schulter, den anderen in die Hand. Jetzt klopfen, geht nicht, zweiter Sack wieder hingestellt, klopf, klopf, klopf, Sack wieder in die Hand. Ein kleines Kind öffnet die Tür, hinter ihr der Onkel mit der neuen Videokamera, ich lächle. Hinein durch den Flur, der Onkel im Rückwärtsgang – Vorsicht, Onkel! – und ab ins Zimmer. Gedicht des Kindes: „Draußen vom Walde komme ich her!“

Das Mädchen stockt, der Onkel hat alles auf Video. Bescherung. Der Onkel wirft sich auf den Boden, um den Weihnachtsmann von unten zu filmen. „Will der Weihnachtsmann was trinken, einen Schaps?“ – „Nein, ich hab noch viel zu tun.“- „Oder lieber Sekt?“ – „Nein, dann doch Schnaps, ja, den braunen.“

Wie jetzt trinken mit dem Bart im Gesicht? Ich wende mich ab, damit das Kind nichts sieht, Bart schnell runter, auf ex, Bart wieder hoch, das Kind hat nichts gesehen, der Onkel alles auf Video. Scheiße. Jetzt noch mal das Kind in den Arm – hat der Onkel das? – und lächeln, na ja, der Bart. „Wiedersehn Weihnachtsmann.“ – „Wiedersehn, bis nächstes Jahr, und immer schön artig sein.“ Der Onkel filmt mich bis zur Tür. Jetzt könnte er langsam verschwinden, ich muss noch kassieren. Der Vater gibt mir 15 DM Trinkgeld. Das hat sich gelohnt.

Bart, Sack, Schnaps

Auf zur nächsten Familie. Schon 10 Minuten zu spät, das wird eng, ich muss mich beeilen. Vor der Tür drei Plastiksäcke. Ach du liebe Zeit! Über einen stülpe ich meinen Sack, das sieht besser aus, die anderen müssen so gehen. Ich klopfe. Ein Sack kommt über die Schulter, ein Sack in die linke Hand, den dritten trete ich vor mich her. Die Geschenke verteilen sich gleichmäßig auf dem Flur. Das Sündenregister, zwei Gedichte, Bescherung. Ein Geschenk für die Oma. „Kann die Oma auch ein Gedicht?“ – „Naja. Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an.“ Ich schau nicht böse, ich lächle doch, blöder Bart. Ein Geschenk für den Papa. War er auch artig? Na ja, meistens. Kann er ein Gedicht? „Lieber, guter Weihnachtsmann …“ Und die Mutter? Nein, nicht schon wieder! „Lieber, guter Weihnachtsmann …“ – „Will der Weihnachtsmann noch was trinken? Einen Kirsch oder Whiskey?“ Dann lieber Whiskey.

Nächste Familie. Drei Kinder: ein Junge, 4, ein Mädchen, 8, ein Junge, 14. Zwei Gedichte. Kann der Große auch eins? Nein, er kann nicht. Kann er doch, meint die Mutter. Kann er nicht, meint der Junge. Zick nicht rum, meint die Mutter. Du verdirbst uns das ganze Fest, meint noch mal die Mutter. Er kann aber kein Gedicht – doch – nee – lieber guter Weihnachtsmann – nee – mach jetzt – nee – dann das, was de inne Schule gelernt hast – welches? – John Scheer und Genossen – nee, ich will nicht – los, John Scheer und Genossen. Der Junge stottert die erste Strophe von „John Scheer und Genossen“. Bescherung. Miese Stimmung hier. Bloß schnell weg. Zu trinken gibt es auch nichts. Scheißfamilie. Schon 15 Minuten Verspätung.

Weiter geht’s. Langsam wird es dunkel. Ich treffe einen Weihnachtsmannkollegen, wir grüßen uns. Nächste Station: drei Kinder. Zwei Gedichte, ein Lied: „Leise rieselt der Schnee.“ Der soll mal etwas schneller rieseln! Nicht noch mal von vorn! Zwei Strophen reichen. Verdammt, ich hab’s eilig. Bescherung. „Will der Weihnachtsmann was trinken? Ein Bier vielleicht?“ Na ja, nach der letzen Familie ist ein bisschen Alkohol nicht verkehrt. So viel Zeit muss sein. Der Junge fragt mich, wo der Weihnachtsmann herkommt. Woher soll ich das wissen? Ach so, ich bin der Weihnachtsmann. Nordpol? Ich muss weg. Nächste Familie, ein Baby. „Kann es auch ein Gedicht? Hahaha.“ Der Weihnachtsmann ist lustig. Ich hole Zeit auf. Drei weitere Familien, zehn Gedichte, ein Chantré, ein Klarer, ein Pfeffi, die Stimmung ist prima.

Wer macht ins Bett?

Nächste Familie. O Gott, schon wieder drei Plastiksäcke. Ich nehme zwei, Papa bringt den dritten. Zwei Gedichte, Bescherung. Na nu, an der Pralinenschachtel ist ja kein Namensschild. „Ach, der Weihnachtsmann hat den Müll mit reingebracht!“ Mist. Und wieder weiter. Das Fahrrad macht lustige Schlängelbewegungen. Treppe hoch, ich klingle. „Hallo, hier ist der Weihnachtsmann!“ – „Soll das ein Scherz sein?“ – „Tschuldigung, falsche Tür.“ Ich klingle beim Nachbarn. „Hallo, hier ist der Weihnachtsmann!“ – „Sie kommen ja spät!“ – „Soll das ein Scherz sein?“ – „Haben Sie getrunken?“ – „Nö, wieso?“ Ich hohoho mich durch den Flur. Drei Kinder. Mal schauen, was in meinem goldenen Buch steht. „Du bist also der Arne.“ – „Nein, ich bin der Christopher.“ – „Dann bist du der Arne.“ – „Nein, ich bin die Jennifer.“ – „Wo ist Arne?“ – „Ich bin Arne.“ – „Du machst also ins Bett?“ – „Nein, der Christopher macht ins Bett.“ – „Stimmt gar nicht!“ – „Na einer muss es ja sein. Jennifer.“ – „Nein! Ich bin schon zwölf.“ – „Dann solltest du langsam damit aufhören!“ – „Ich mach aber nicht ins Bett, sondern Christopher!“ – „Könnt ihr euch mal einigen, der Weihnachtsmann hat nicht ewig Zeit!“ – „Mama! Der Weihnachtsmann stinkt!“ – „Stimmt gar nicht, du stinkst!“ – „Jetzt machen Sie mal die Bescherung.“ Die Kinder bekommen ihre Geschenke, und ich wanke wieder zur Tür. Kein Trinkgeld? Egal, habe ja schon genug verdient heute.

Noch eine Familie. Ich glaube, mir ist schlecht. Hoffentlich muss ich nicht kotzen. Wo ist mein Fahrrad? Ach da. Hoppla, ich geh besser zu Fuß. Dingdong. „Hallihallo, hier ist der Dings!“ Und ab durch die Mitte. „Warum singen wir nicht alle ‚O Tannenbaum‘ ?“ Die Familie singt „O Tannenbaum“, ich singe am lautesten. Mir wird warm ums Herz und flau in der Magengrube.

Das Sündenregister. Ich kann eh nichts mehr lesen und improvisiere. „Na, wer ist denn der Kleine?“ – „Micha.“ – „Der Micha, mal schauen, was hier steht. Du machst ins Bett?“ – „Nein.“ – „Aber der Christopher zwei Häuser weiter macht ins Bett.“ – „Mama, der Weihnachtsmann ist lustig!“ – „Und der Lange hier, wer ist das?“ – „Das ist mein Bruder Stefan.“ – „Mal gucken, Stefan, was hier steht. Oh, du onanierst hinterm Schuppen? Nanananana!“ Der kleine Micha: „Mama, was ist onanieren?“ – „Das ist nichts Schlimmes“, erkläre ich, „der Weihnachtsmann macht das auch manchmal, und der Papa auch, wenn ihn die Mama mal nicht ranlässt. Und wenn du groß bist, dann machst du das auch, genau wie der Stefan.“ Die Oma mischt sich ein: „Was macht der Stefan?“ – „Der onaniert, Oma!“ –„So, jetzt nehmt euch die Geschenke aus dem Sack, der Weihnachtsmann muss mal aufs Klo.“ Ich schaffe es nur bis zum Flur. „Das muss mal einer hier wegmachen, das stinkt, auf Wiedersehn!“ – „Wiedersehn, Weihnachtsmann!“ Geschafft.

Die Fortsetzung dieser Geschichte erzählt Uli Hannemann auf Seite 17