Anleitung zum Schuldigsein

Mit krimineller Fantasie: Das Computergame „Grand Theft Auto“ lädt dazu ein, Autodiebstähle, Bandenkriege und andere Verbrechen durchzuspielen. So umstritten es wegen seines Plots auch ist – aufgrund seiner technischen Effekte markiert das Spiel einen Meilenstein in der Entwicklung des Genres

Vom Kinderkram zum komplexen Mitspiel- Epos: Das Medium emanzipiert sich

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Nun ist es doch passiert. Im US-Bundesstaat Wisconsin hat die Polizei einen Jugendlichen festgenommen, der in wenigen Tagen an die 100 Straftaten begangen haben soll. Unter anderem soll er laut CNN mehrere Autos geknackt haben. Nach seiner Verhaftung gab der 19-Jährige an, zu der Verbrechenserie von dem Computerspiel „Grand Theft Auto“ inspiriert worden zu sein.

Und wieder einmal scheint erwiesen, dass Computerspiele auf labile Jugendliche einen denkbar ungünstigen Einfluss haben. Und dass „Grand Theft Auto“ zu denjenigen Spielen gehört, die in dieser Hinsicht besonders bedenklich sind. Das Game, das die Zeitung USA Today eine „virtuelle Ausbildung zum Verbrecher“ genannt hat, war bereits Gegenstand eines Untersuchungsausschusses im US-Senat und stand in Australien auf dem Index, bis die Produktionsfirma einige Szenen entfernte.

Denn in dem Spiel geht es um nichts weniger als darum, in die Haut eines digitalen Kriminellen zu schlüpfen und Verbrechen zu begehen, um in der Halbwelt einer Computerstadt namens Liberty City aufzusteigen. Dazu gehören neben Autoklau auch Drogenhandel, Zuhälterei, Kidnapping und Mord. „Grand Theft Auto“ gehört zu den perfidesten Games in der kurzen Geschichte des Computerspiels. Und zu den erfolgreichsten: Acht Millionen Mal hat sich zum Beispiel die dritte GAT-Folge seit ihrer Veröffentlichung 2001 verkauft – öfter als jedes andere Spiel in derselben Zeit. Der neuen Folge „Vice City“ – seit wenigen Wochen erhältlich – wird ein ähnlicher Erfolg vorausgesagt. Der Wirbel, den das Spiel ausgelöst hat, nimmt langsam Formen an wie zuletzt nur der Hype um das Spiel „Tomb Raider“ und seine Heldin Lara Croft.

Der amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins hat das Spiel sogar mit einem der großen amerikanischen Stummfilmklassiker verglichen: „Ich denke darüber genauso wie über den Film ,Birth of a Nation‘ – es ist ein Werk, das zwar eine Menge unappetitliche Aspekte hat, aber ich respektiere oder bewundere es sogar als einen großen Schritt in der Entwicklung von Computerspielen als Medium.“

In der Tat verbindet GTA, das von seinen Entwicklern eine „Kriminalfantasie“ genannt wird, viel mit D. W. Griffith’ Monumentalepos über den Amerikanischen Bürgerkrieg: So wie „Birth of a Nation“ den Übergang vom Film als Jahrmarktsattraktion zum Entstehen einer genuinen Filmkunst markiert, so gehört „Grand Theft Auto“ trotz seines kruden Plots zu den Spielen, die anzeigen, wie aus der Kinderbelustigung Computergame langsam hochkomplexe Environments werden. Das Spiel ist ein Meilenstein – und genau darin liegt sein Erfolg begründet. Denn wie auch Spiele wie „Die Sims“, „Black & White“ oder „Counterstrike“ zeigen, gehören Games mit innovativen Spielideen – einer ungewöhnlichen Marktlogik – folgend meist auch zu den erfolgreichsten Spielen.

„Die Gesellschaft verfällt immer mehr: Die Verbrechensrate blüht, die biochemische Abhängigkeit der Menschen hat Hochkonjunktur, und für dich geht der Spaß erst so richtig los“, heißt es in der Spielanleitung der zweiten Version von „Grand Theft Auto“ (GTA). „Du hast nur eins zum Ziel: auf jede mögliche Weise Kohle zu machen … Das einzige, was in dieser Stadt noch funktioniert, ist das organisierte Verbrechen. Jedes schäbige Unterfangen vom Schwarzbrennen von Alkohol bis zum Erpressen von Politikern wird von einer der Banden kontrolliert. Jede Gegend hat ihre eigenen Gangster, die es nicht abhaben können, wenn ein Neuer sich einmischt. Du musst diese Banden dazu bringen, dass sie dich respektieren und dir Aufträge geben.“ Fast überflüssig zu erwähnen, dass man sich den Respekt der anderen Gangs am leichtesten dadurch erwirbt, indem man die Ganoven von der Konkurrenz erschießt. Und wie einer der Werbeslogans für das Spiel lautet: „Respect is everything.“

Die Aufträge, die dann kommen, erhält man per Münztelefon oder Pager. Diese „Missionen“ können darin bestehen, ein Auto zu stehlen, Bomben zu legen oder einen säumigen Schuldner mit einem Baseballschläger zu verprügeln – womit ein freiberuflicher Profiverbrecher eben so seine Tage verbringt. Dabei bewegt man sich in einer düsteren großstädtischen Unterwelt voller Mafiosi, Dealern, Prostituierten und korrupter Cops. Dieses Szenario unterscheidet sich deutlich von den Fantasy-, Science-Fiction- und Comic-Welten, welche die Mehrzahl der Computerspiele prägt. GTA richtet sich nicht nur wegen seiner Thematik, sondern auch in seinem Stil und seinem düsteren Humor eindeutig an eine erwachsene Zielgruppe – und nicht an die Kinder und Jugendlichen, für die die meisten Computergames konzipiert sind. Diese Zielgruppe wird von der Produktionsfirma Rockstar Games durch spektakuläre Werbung und gezielte Tabubrüche mit Macht auf das Spiel hingewiesen.

Die amerikanische Spielefirma hat auch das ebenfalls recht derbe Actionspiel „Max Payne“ sowie „State of Emergency“ veröffentlicht. In Letzterem geht es darum, auf den Straßen einer amerikanischen Stadt gegen einen multinationalen Konzern zu rebellieren, Fensterscheiben einzuschlagen und Manager zu jagen. Parallelen zu den Anti-WTO-Protesten in Seattle wies Rockstar-Games-Chef Terry Donovan mit den Worten zurück, die Riots der Globalisierungsgegner seien „nicht cool genug“ gewesen, um als Vorbild zu dienen. Anders als GTA war „State of Emergency“ trotz des kalkulierten Schockeffekts allerdings kein großer Erfolg.

Dass „Grand Theft Auto“ zu einem sofortigen Computerspielklassiker wurde, lag nicht zuletzt an einer Reihe von technischen Durchbrüchen, für die sich die Programmierer der Firma der neuesten Errungenschaften der Spielkonsole Playstation 2 bedienten: Während man in den ersten Folgen diesem Treiben noch aus der Vogelperspektive zusieht, ist man nun sozusagen Teil der Aktion: In atemberaubender 3-D-Grafik bewegt man sich durch die Straßen von Liberty City, einer unermesslich groß wirkenden amerikanischen Metropole.

Dabei muss man keineswegs nur als Verbrecher unterwegs sein, man kann auch mit einem Feuerwehrwagen Brände löschen, Leute zum Krankenhaus fahren oder sogar damit Geld verdienen, dass man Menschen mit dem Taxi herumkutschiert. Manche Spieler verbringen erst mal Ewigkeiten damit, die vielen betretbaren Häuser zu untersuchen oder einfach nur über die Highways der Stadt zu cruisen und dabei der Musik aus dem Autoradio zuzuhören – dank einer geschickten Marketingstrategie sind nämlich auch „Sender“ mit Musikmischungen von HipHop bis Techno oder eine der amerikanischen Call-in-Radioshows zu empfangen. In der neuen Folge „Vice City“ bewegen wir uns gar durch ein Szenario, das an das verkommene Miami aus der 80er-Jahre-Serie „Miami Vice“ erinnert und in dem auch im Autoradio nur Oldies aus dieser Zeit zu hören sind.

Das Spiel fügt diverse Erzählmethoden zu einem großen neuen Szenario zusammen

Die unerschöpflich erscheinenden Missionen und Spielszenarios suggerieren unbegrenzte Freiheit. Während man bei anderen Spielen eine Mission nach der anderen abarbeiten muss, hat man bei GTA die Selbstständigkeit, sich nichtlinear durch Liberty City zu bewegen. Es gibt zwar noch Spielregeln, aber man kann sie auch missachten und stundenlang durch das digitale Paralleluniversum flanieren. Wenn man sich stattdessen auf das Spiel einlässt, kann das freilich wesentlich länger dauern: Selbst erfahrene Spieler können sich mühelos 80 Stunden und länger mit einer der GTA-Folgen beschäftigen.

Freilich, „Grand Theft Auto“ ist nicht das erste Spiel, in dem man sich durch scheinbar endlose Spielszenarien bewegt. Schon in dem über zehn Jahre alten Klassiker „The Legend of Zelda“ konnte sich der Spieler in endlosen Gamewelten verlaufen. Auch sonst sind die Eigenschaften, die an GTA hervorgehoben werden, jede für sich genommen nicht neu. Atemberaubende 3-D-Szenarien hat es auch schon in vielen Ego-Shootern gegeben, ebenso wie schon viele Rennspiele rasante Autoverfolgungsjagden boten. Auch die künstliche Intelligenz, gegen die man kämpft, und die Simulationen, die im Hintergrund ablaufen, kennt man schon aus anderen Spielen.

Das Revolutionäre an GTA besteht darin, dass die vielen Innovationen, die das Spiel aus Renn- und Actionspielen, Baller- und Rollenspielen zusammengesammelt hat, hier nicht mehr als Selbstzweck eingesetzt werden, sondern vielmehr einem großen Spielszenario untergeordnet sind.

Darin gleicht GTA tatsächlich „Birth of a Nation“: D. W. Griffith hatte die verschiedene neuen Montagemethoden, die er in dem Film einsetzte, auch aus vorangegangenen, zum guten Teil sogar eigenen Filmen kopiert. Aber er setzte sie als Elemente in einem riesiges Epos über den amerikanischen Bürgerkrieg ein, der nicht nur in puncto Budget und Länge alles bis zu diesem Zeitpunkt Dagewesene sprengte, sondern auch ein ästhetischer Meilenstein war.

Auch GTA fügt in einzelnen, herausragenden Games entwickelte Erzählmethoden auf dem neueste Stand der Technik zu einem Spiel zusammen, das etwas Episches hat – bloß dass es nicht um ein großes historisches Thema geht, sondern darum, seine eigenen asozialen Impulse auszutoben. In diesem Sinne hat „Grand Theft Auto“ doch noch viel von einer Jahrmarktattraktion, aber es zeigt die komplexen und vielschichtigen Möglichkeiten, die Computerspiele als Erzählmedium inzwischen zu bieten haben. Und aus denen sich in Zukunft auch ganz andere Geschichten entwickeln dürften: kein interaktiver Film, aber eine Art Kino zum Mitspielen.