Flügel für die Nacht

Wie stiftet die Zeit nach Einbruch der Dunkelheit Glück? Ist London ein okayes Pflaster, um deutsche Deprimiertheiten hinter sich zu lassen? Was trägt man, was trinkt man, um bestens im Leben zu sein?

von HENNING KOBER

In der Londoner Kunstszene gibt es viele Namen. Niyi möchte, dass seiner dazugehört. Deshalb gründete er die Gauche-Chic-Bewegung und versucht im East End, eine neue Party zu etablieren. Zur Premiere kamen Drogen, Sex, hoffnungsvolle junge Menschen. „I’m starting a new movement, called gauche chic“, erzählt Niyi vor zwei Monaten. Seine Telefonstimme, voll Euphorie, klingt wie eine einfache, aber lang erwartete Antwort auf die Tocotroniclethargie in jungen deutschen Köpfen, „ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“.

An einem Donnerstagmorgen ist von dem neunzehnjährigen Jungen, der am London College of Printing Grafikdesign studiert und im Herbst auf das berühmte St. Martins College wechselt, etwas die Coolness gewichen. Kleine Schweißperlen blitzen auf seiner schwarzen Haut. Morgen Abend soll sich der Gauche-Chic-Gedanke in einer ersten großen Party materialisieren, und Nina ruft einfach nicht an. „She’s such a bitch“, stößt Niyi wütend aus, wirkt aber doch mehr verzweifelt.

Das Mädchen, eine Collegefreundin, schuldet ihm fünfhundert Pfund und meldet sich einfach nicht. Ihr Handy ist ausgeschaltet. Über eine Freundin ist zu hören, sie sei in Schottland. „Wie soll ich denn jetzt den Alkohol bezahlen?“ Eine Frage ohne Antwort. Vielleicht lässt sich James, der im Laufe des Tages mit seinem Van und einer Ladefläche voll Bier nach Frankreich fahren will, überreden, das Geld vorzuschießen.

Vielleicht. Jetzt klingelt wieder das Telefon. Michael, Ben und Sarah lassen sich auf der Gästeliste eintragen, und Niyi grinst zufrieden, als er ihre Namen in das rote Buch einträgt. „Michael ist aus Polen, und alles Polnische ist in London gerade sehr angesagt.“ Der richtigen Mischung an Gästen misst Niyi größte Bedeutung zu. Gauche, also linkisch sollen sie aussehen.

Gerade blättert er durch die Face und bleibt an einer Fotostrecke über Kinder in Clubs hängen. „I want to have a lot of children on my party. They look so good.“ Er lacht und fängt an, saure Stäbchen in eine der vierzig Wodkaflaschen, die im Kühlschrank seines Zimmers in einem Studentenwohnheim in Südlondon gelagert sind, zu stopfen. „To flavour them“, erklärt er.

Niyi ist in allem, was er macht, sehr schnell. Rasant verschiebt sich seine Konzentration, ohne dabei sein Ziel zu vernachlässigen, diese, seine erste Party, die er in London gibt, zu einer großen Nacht zu machen. Seit sechs Wochen hastet er durch die Straßen Londons, drückt Personen, die seine Aufmerksamkeit erregen, einen diskreten beigefarbenen Umschlag in die Hand. Darin eine Einladung zur Gauche-Chic-Party. „Dress code: strictly gauche (no gauche, no entry)“.

Um zu verstehen, nach welchen Kriterien Niyi die 130 Umschläge mit Einladungen verteilt, hilft ein kleiner Sprung zurück in die letzte Nacht. Drei Clubs hat Niyi an diesem Abend auf der Suche nach Personen, die gauche sind, besucht, und jetzt, nachdem das „Heaven“ um drei Uhr, wie alle Clubs in London, schließt, will er immer noch nicht nach Hause. Am Leicester Square drückt er im Vorbeigehen einer verdutzten Asiatin mit lila Haaren ein Kuvert in die Hand und beobachtet mit einem schnellen Blick zurück zufrieden ihre verdutzte Reaktion und das Lächeln auf ihren Lippen.

Zwei Straßen weiter die gleiche Szene mit zwei Punkmädchen, die sehr jung und sehr drogensüchtig aussehend auf zwei aufgeschlagenen Schlafsäcken vor einer „Dixons“-Filliale sitzen. Außerdem sollen zur Party kommen: die Fashionredakteurin der Face, ein Freund von Leigh Bowery, sowie alle Rentalboys, die in den Szenemagazinen Boys und QX ihre Handynummer abdrucken ließen und denen Niyi per Textmitteilungen Einladungen geschickt hat. „I want to have the mixest crowd of whole London“, sagt Niyi.

Aber warum das alles? Was macht es so attraktiv, zwei Monate für eine Party zu arbeiten und überdies eine Menge Geld, von dem sowieso immer zu wenig da ist, auf riskante Art und Weise zu investieren? „Jeder möchte Partys veranstalten, oder?“ Eine typische Niyi-Antwort, die nichts als die Lästigkeit der Frage ausdrücken soll. Lässt man ihn weiterreden, gibt es mehr Wahrheit. „You know art scene is an own world. All people tell each other all the time, how fab they are. But you have to decide if you want to be part of it or not.“

Niyi scheint sich entschieden zu haben. Ein bisschen gezwungen, weil es ja auch nicht so viele Alternativen gibt, aber mit dem Glauben, trotz aller Gefahren, die in einer bunten Londonwelt warten, ein bestes Leben zu führen.

Freitagabend, halb eins. Die Party läuft, das am Ende einer verlassenen Straße wie freigebombt dastehende Eckhaus mit der alten Aufschrift „Radio City Cars“ ist voller Leute. Niyi ist immer noch die ganze Zeit am Telefon, um Neuankömmlingen den Weg von der U-Bahn-Station Old Street zu beschreiben. Bisher lebt die Party von Schocks: die niedrige Decke im Keller, wo ein sehr krank aussehender DJ, der, mit einer überdimensionalen schwarzen Sonnenbrille und einem eintätowierten Leoparden auf der Kopfhaut dekoriert, Peaches auflegt; der geheimnisvolle Raum, wo eine überdimensionale weiße Daunendecke eine Einladung zum gemeinsamen Verweilen ausspricht und natürlich das Loch in der Wand. „Oh my god, I can’t believe it“, seufzt Susan, als ihr Tim den Weg zur Toilette zeigt. Das blonde Mädchen zwängt sich durch das etwa einen halben Quadratmeter große Loch und steigt vorsichtig tastend die Treppe hinauf. Schwach erleuchtet vom gelben Straßenlicht, steht sie in einem Raum, der früher wohl mal ein Schlafzimmer war.

Die Zahl der anwesenden Jungs und Mädchen verschwimmt im spärlichen Licht. Nur von der sehr verranzten Matratze, die einen an Heroinspritzen erinnert, halten alle Sicherheitsabstand. Endlich geht die Tür zum Klo auf, ein muskulöser schwarzer Junge drängt sich an Susan vorbei. Der Boden glänzt feucht, die Wasserspülung funktioniert nicht. Das Haus, das wie zufällig vom Abriss vergessen wirkt, gehört Brian, einem 32-jährigen Freund von Niyi, der bereits sehr betrunken in einem grünen Gewand durch die Räume schwebt.

An der Bar, die aus einem Kühlschrank und zwei großen Bottichen mit Eis und Bier besteht, drängen sich die Menschen. An der Wand steht mit krakeliger schwarzem Filzstift: „wodka 1 pound, beer 50 pence, hooch free, sweets available for request“. Die Auskunft des deutschen Barmanns, die sweets, die er irrtümlich für Süßigkeiten hält, seien in den Wodka gemixt, sorgt für einen verstärkten Absatz des hochprozentigen Getränks. „What’s inside?“, will Ben ständig wissen, erntet jedoch nur ein missverständliches Lächeln des Barmanns.

Tyrone, der Dealer wird in zwanzig Minuten da sein“, greift Niyi beruhigend und amüsiert ein. Inzwischen reicht Neal eine Ketaminampulle herum, und Markus, ein Junge, der erst neulich von Stockholm hierhergezogen ist und als Model arbeitet, zieht zwei große Züge durch seine Nase. Seine Augen strahlen aus dem Gesicht, er streicht sich das halblange Haar hinter die Ohren und erzählt von seinem Fotoshooting, das er heute für Attitude gemacht hat. „But“, sein Gesicht näher sich, mit leiser Stimme fährt er fort: „I’m not gay, don’t thing anything wrong. I have a girlfriend.“

Dann greift er schnell seine Fotobuch aus der Lonsdaleumhängetasche und zeigt stolz leichtbekleidete Bilder und Portraits, auf denen er wie der junge Richard Ashcroft aussieht. Sein Freund und Mitbewohner Rich zieht Markus weg und weist auf eine asiatisch aussehende Frau. Sie arbeitet bei Dazed&Confused, und Markus soll ihr seine Fotos zeigen.

Vertraulich erklärt Rich: „I have a look on him, try to stay him away from the drugs and shit people.“ Aha. Damian, ein Junge mit göttlich zum Himmel stehenden Rastahaaren, drängt sich an der Bar vorbei und sucht aufgeregt Niyi. Es droht Überflutung. Auf einmal läuft Wasser aus der Toilette, ohne Ende. „Shit, shit“, flucht Niyi und erkundigt sich bei Brian, woran das liegen kann. Der ist inzwischen so betrunken, dass er jede Person, egal welchen Geschlechts, umarmen und küssen möchte.

Trotzdem schreitet er auf einmal wie verwandelt zu einem Generalhahn und dreht das Wasser wieder ab. „Can I have a beer for free please“, ruft ein Junge in das Gedränge, „I’ve lost all my money in the basement.“ Sein Gesicht glänzt verschwitzt. Es bedarf keiner aufwändigen Nachfragen, um von ihm zu erfahren, dass er gerade Sex mit einem französischen Mädchen hatte. Soll gut gewesen sein. „But mate, believe me, I don’t have sex, I make love.“

Die Sehnsucht nach Körperkontakt liegt inzwischen wie ein warmes Versprechen über den Köpfen. Gründe dafür sind die vorgerückte Uhrzeit von halb vier, für englische Verhältnisse sehr, sehr spät, und die Anwesenheit von Tyrone, der anscheinend alle, aber wirklich alle Präparate für einen Sinnesrausch im Sortiment führt.

Unauffällig wirkt er, sehr vielbeschäftigt, und bedient sich seines Geschäftsgeheimnisses und größten Kapitals: Er zaubert ein Lächeln in sein unschuldiges Gesicht, das dem eines Fünfzehnjährigen zu gleichen scheint und nicht dem eines 22-jährigen Dealers.

Um fünf Uhr ist es leer geworden. Niyi ist schon vor einer halben Stunde mit einem Freund nach Hause gegangen. Das Hooch ist alle, die Eiswürfel unter den Bierflaschen geschmolzen, und der Weg ins Obergeschoss zur Toilette fällt wieder leichter, durch die Fenster kommt schon etwas Dämmerungslicht. Ein Mädchen sitzt in der Ecke, etwas Blut läuft aus ihrer Nase, das sie sorgfältig mit einem weißen Taschentuch abwischt.

Auf der Matratze bewegen sich zwei nackte Jungenkörper. Küssend scheinen sie glücklich. Auf einer der Treppenstufen sitzt Damian, den Kopf auf die Arme gestützt. Er will sich nicht wecken lassen, schon gar nicht von Gareth. „Let me sleep, I’m dreaming nicely“, murmelt er aus seiner Traumwelt.

Der nächste Tag beginnt für Niyi erst am Abend. Seinen Augen ist die Müdigkeit noch anzusehen. Er hat zweihundert Pfund Verlust gemacht, aber egal, er ist auf dem Weg. „Dafür, dass es die erste Party war, bin ich sehr zufrieden.“

Der Veranstalter einer großen Partyreihe hat ihn angesprochen, ob Niyi an einer Zusammenarbeit interessiert sei, und die Managerin eines der angesagtesten Clubs in London wird zwei Tage später anfragen, ob die Gauche-Chic-Party nicht donnerstags in ihrem Club stattfinden könnten, aber Niyi wird sagen: „That’s a really nice sign, but I think Gauche Chic is my business. I’ll make it big.“

HENNING KOBER, Jahrgang 1981, lebt als freier Autor in Berlin. London hat er kürzlich besucht