Gefährliche Reisen

In seinem Spionageroman „Das Reich der Schatten“ beschreibt Alan Furst das Versagen der europäischen Diplomatie vor dem Zweiten Weltkrieg

von ROBERT BRACK

Wie zweifelhaft manche Annahmen bezüglich der Gesetzmäßigkeiten eines literarischen Genres sind, merkt man erst, wenn jemand sie aushebelt. Die selten angezweifelte Prämisse des Kriminalromans „Aufklärung ist möglich unter allen Umständen“ gilt auch für Subgenres wie den Politthriller und den Spionageroman.

Dass man den verschlungenen und oft unlogischen Gang der Weltgeschichte auf griffige Formeln konzentrieren kann, wird auch von intelligenten Autoren selten angezweifelt. Üblicherweise werden holprig ablaufende politische Intrigen in stromlinienförmige Romanhandlungen eingepasst, weil sie den Gesetzen der Thrillerdramaturgie gehorchen müssen.

Müssen sie das wirklich? Der Amerikaner Alan Furst verweigert sich diesem billigen Strickmuster. Seine Spionageromane sind vielschichtiger. Eine Reise in die Sowjetunion und ein langjähriger Parisaufenthalt Anfang der 80er-Jahre bescherten dem bis dahin mäßig erfolgreichen Krimiautor ein neues Thema: Der Sohn jüdischer Einwanderer entdeckte seine europäischen Wurzeln. Wie und warum sie gekappt wurden, was Europa einmal war und wie es zu dem wurde, was es heute ist, begann ihn brennend zu interessieren.

Furst stellte fest, dass die 30er-Jahre das entscheidende Jahrzehnt der Weichenstellung für das 20. Jahrhundert waren. Er begann zu recherchieren und förderte derart viele soziale, kulturelle und politische Details jener Zeit zutage, dass ihm dieser Steinbruch Material für sieben Bücher lieferte. Das erste hieß „Soldaten der Nacht“. Der groß angelegte Roman über die Odyssee eines NKWD-Agenten im Europa der Jahre 1934–1945, verprellte durch seine Detailfülle die Krimileserschaft. Danach traute sich kein deutscher Verlag mehr an Furst heran.

Es dauerte 13 Jahre, bis ein endlich neuer Roman von ihm übersetzt wurde. Man darf gespannt sein, wie die Genreexperten reagieren, denn „Das Reich der Schatten“ öffnet dem Spionageroman neue Türen, führt ihn stilistisch, dramaturgisch und inhaltlich auf unbekanntes Terrain. Vordergründig liefert er alles, was die Leser des Genres lieben: Er taucht tief ein in die intrigenschwangere Atmosphäre geheimdienstlicher Mauscheleien der Jahre 1938/39; er beschwört die Lebenslust und den Hang zur Dekadenz des alten Europa; und er zeichnet ein vielschichtiges Bild der barbarischen Bedrohung durch den Totalitarismus. Darüber hinaus beschreibt dieser Roman kenntnisreich das Versagen der diplomatischen Kaste Europas, der es aus tausend verschiedenen Gründen nicht gelingt, das Ungeheuer zu bändigen, dass sie alle mit in den Abgrund reißen wird.

Im Mittelpunkt steht der ungarische Aristokrat Nicholas Morath, der in Paris ein beneidenswert leichtes Leben zwischen den Fauteuils wohlhabender Exilanten und dem Bett seiner Geliebten führt. Doch Morath ist kein verantwortungloser Décadent, er ist Widerstandskämpfer. Im Auftrag seines Onkels, des ungarischen Diplomaten Graf Polanyi, unternimmt er gefährliche Reisen nach Deutschland, Ungarn, Rumänien und die Tschechoslowakei.

Was genau er tut, wenn er gefälschte Dokumente schmuggelt, Geld einsammelt, verhaftete Agenten oder Privatpersonen befreit, ist ihm mitunter selbst unklar. Zwar ahnt er, dass seine Tätigkeit irgendwie in Zusammenhang steht mit den diplomatischen Winkelzügen um den Anschluss Österreichs, die Annektion des Sudentenlands und der deutschen Aggression gegen Polen, aber die Situation ist zu verwickelt, um den Überblick zu behalten.

Hinzu kommt, dass Graf Polanyi eine eigenwillige Deeskalationsstrategie betreibt, um Ungarn vor den Nazis zu retten: Stärke die Feinde deiner Feinde und deren Freunde, damit sie mit sich zu tun haben und dich in Ruhe lassen. Polanyis Strategie geht nicht auf, der Graf verschwindet und lässt Morath allein zurück in einem Paris, das die Augen verschließt und noch einmal alle Register zieht, um am Vorabend des großen Krieges soviel Lebenslust wie möglich zu zelebrieren.

Und hier beweist Alan Furst endgültig seine Meisterschaft: „Königreich der Schatten“ ist nicht nur ein brillanter historischer Spionageroman, sondern auch ein lebendiges Porträt der dem Untergang geweihten europäischen Zivilisation. Aber wie das so ist mit Erinnerungen an vergangene Zeiten: Vieles bleibt offen, manche Bilder unvollständig, Geschehnisse unvollendet, Personen werden an den Rand des Geschehens gedrängt und verschwinden, und über alles legt sich ein Schleier, der sich an manchen Stellen trotz heftigster Anstrengung nicht mehr lüften lässt. Das ist bitter, aber wahr.

Alan Furst: „Das Reich der Schatten“. Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein. Knaus, München 2002. 320 S., 21,90 €