„Und wie viele simma?“

Warum musste man dieses Silvester ohne Freundin sein? Warum musste man immer an Silvester ohne Freundin sein? Gerade an Silvester galt es doch, glücklich zu sein. Man hatte sich das Glücklichsein doch extra aufgehoben. Eine einsame Geschichte

von STEPHAN ZEISIG

Gute Silvester konnte ich an zwei Händen abzählen, die beide keine Finger besaßen. Diesmal sollte alles anders werden. Hatte ich in den letzten Jahren hauptsächlich mit mir gefeiert, weil andere sich mir nicht aussetzen wollten, so würde ich diesmal von dem einen Angebot nur so überschüttet. Sebastian hatte mich eingeladen: „Sebastian! Wo feierst du denn?“ – „Sag ich nicht.“ – „Ich verspreche dir auch, nicht zu kommen.“ – „Na gut. Bergmannstraße 19, Kreuzberg, bei Tilster.“

Dass mich bis auf Sebastian dort keiner kannte, verhinderte immerhin, dass die Leute gleich von vornherein der Feier fernblieben. Unterhielt sich dennoch niemand mit mir, würde ich eben Sebastian und seiner Neuen beim Küssen zuschauen. Zunächst machte ich aber einer Feier in Wittenau meine Aufwartung. Ein oft beschrittener Weg. Am frühen Abend auf einer Party in der Peripherie auftauchen, sich dort mit Chips und Sekt ausstatten, um dann für die guten Partys im Zentrum was zum Mitbringen zu haben. Da ich in Wittenau sehr unbeliebt war, ließ ich mir mein Wiederverschwinden mit teuren Portweinen bezahlen.

Bis zum Leopoldplatz nahm ich die U-Bahn, von dort ein Taxi. Taxifahrten waren mir eigentlich ein Gräuel. Man hatte dafür zu zahlen, sich mit dem Taxifahrer unterhalten zu müssen. Aber ich war in Eile.

„Läuft’s denn heute?“ – „Überhaupt nicht. Sie sind der Erste, bei dem es so richtig scheppern wird.“ – „Da bin ich ja beruhigt. Das liegt gewiss am 11. September. Seitdem fährt ja kaum noch jemand Taxi“, scherzte ich und lieferte ihm sogleich das Thema, welches ihm offensichtlich am meisten auf dem Herzen drückte: der Nahostkonflikt. „Wo sind sie denn her?“, erkundigte ich mich, um keinen Fehler zu machen. „Libanon.“ – „Der Befreiungskampf des unterdrückten palästinensischen Volkes gegen den amerikanisch-zionistischen Imperialismus verlangt weltweite Solidarität“, schob ich nach. Eine differenziertere Meinung konnte ich mir jetzt nicht leisten. Ich wollte keinen Umweg über Marzahn riskieren. Ich stimmte ihm im Folgenden immer zu.

Ich intervenierte erst, als er sich anschickte, zum dritten Mal um den Alex zu kurven. Offenbar wollte er bis zur Einführung des Euro weiterdiskutieren: „Ich finde, wir sollten langsam zum Resümee kommen.“ Am Ende der Fahrt zeigte das Taxometer 95 Mark. Ich gab ihm einen Hunderter: „Hier! Der Rest ist für Palästina!“ So musste Joschka Fischer auch mal angefangen haben, und der war ja heute immerhin einer der besten deutschen Außenminister, der je von den Grünen gestellt worden war.

Die Party in der Bergmannstraße lief bereits. Acht Leute gaben ihr Bestes. Nur Sebastian und seine Freundin hatten sich noch nicht blicken gelassen: „Wann kommt denn Sebastian?“ – „Welcher Sebastian?“ – „Na euer Kommilitone.“ – „Wir haben keinen Kommilitonen, der so heißt.“ Augenscheinlich war ich verarscht worden. Noch schlimmer: Bei den acht Leuten handelte es sich um vier Pärchen. Ich schaute ihnen dann beim Knutschen zu. Nicht, dass sowas auch Spaß machen kann. Meinem Integrationsbedürfnis kam das aber nicht entgegen. „Tschuldigung! Darf ich deine Freundin auch mal küssen? Du hast ja jetzt schon ganz schön lange.“ Den Mut für diese Forderung brachte ich nicht auf. Nicht mal zu längeren Gesprächen konnte ich sie zwingen. Mir fielen nur Einstiege ein, die einen zum Scheitern verurteilten: „Hey! Bist du öfter hier?“ – „Nee!“ Oder: „Ey! Sag mal! Kann das sein, dass wir uns kennen?“ – „Nee!“ – „Doch!“ – „Nee!“ So blieb mir oft nur Monologisieren.

Als es um die Größe unserer Heimatstadt ging, bot sich mir die Chance, mich einzubringen: „Ich komme aus der viertgrößten Stadt Deutschlands“, prahlte Antje aus Köln. Timm aus München: „Das ist doch gar nichts. Ich bin aus der drittgrößten.“ – „Na und! Ich erst mal. Hamburg ist die zweitgrößte.“ – „Ich bin aus Berlin“, meinte ich. Mir wurde vorgehalten ein arroganter Angeberossi zu sein.

Dieser Ost-West-Konflikt hätte mir weniger bedeutet, hätte ich eine Freundin dabeigehabt. Warum musste ich gerade dieses Silvester ohne Freundin sein? Warum musste ich immer an Silvester ohne Freundin sein? Warum musste ich mit 23 eigentlich überhaupt noch keine Freundin gehabt haben? Andere in meinem Alter waren schon zum zweiten Mal wieder geschieden. Die mussten glücklich sein. Und gerade an Silvester galt es doch, glücklich zu sein. Ich hatte mir das Glücklichsein doch extra das ganze Jahr für heute aufgehoben.

Um elf machten sich alle zum Hackeschen Markt auf. Da man mich nicht allein in der fremden Wohnung lassen wollte, stiefelte ich mit. Die Oranienburger löste Begeisterung aus. Mark aus Hannover meinte zu Lisa, seiner amerikanischen Freundin, die in Leipzig Kommunikationswissenschaften und Kulturmanagement studierte: „Das ist das neue Berlin.“ Sie jubelte: „Auk ik bin eene Börlinö.“ – „Das stimmt nicht“, verbesserte ich sie.

Am Hackeschen Markt fiel der Gruppe ein, dass sie sich um fünf vor Mitternacht mit fünf weiteren Pärchen auf dem Pariser Platz treffen wollten: „Ich glaube nicht, dass ihr das schafft!“, wandte ich ein. „Warum nicht?“ – „Es ist 3 vor 12.“ Meine Bedenken fanden kein Gehör. Ich rannte aber nicht mit. Sich zu Silvester vors Brandenburger Tor zu stellen, konnte auch nur Nichtberliner Hirnen entspringen. Vor Mitternacht wurden sie von am Rand stehenden Berlinern mit Polenböllern beworfen, um Mitternacht durften sie kurz ihre Freundin küssen und nach Mitternacht zielten die am Rand stehenden Berliner Raketen auf sie. Am Ende durften sie sich über das neue Berlin freuen. Bei mir verschöben sich einige Details. Bis Mitternacht mich mit Polenböllern bewerfen lassen, um Mitternacht mich selbst drücken und küssen, um den anderen nicht dabei zuschauen zu müssen, nach Mitternacht von Raketen getroffen werden. Mit meiner Wunderkerze würde ich mich nicht mal richtig verteidigen können: „Wenn du die Rakete auf mich jagst, schmeiße ich hiermit zurück!“

Ich trat lieber den Nachhauseweg an, mit nur wenig Hoffnung, vielleicht noch eine zu finden, zu der ich sagen könnte: „Hey! Du bist doch auch allein und hast ein Feuerzeug. Wollen wir zusammen die Wunderkerze abbrennen. Ich fass auch oben an.“ Doch nichts zu machen. Ich hätte allenfalls bei einem Typ oben anfassen können, an seinem schon tickenden Böller. Ich würde halt nach Hause gehen, um mit mir selbst anzustoßen und mir noch ein frohes Jahr zu wünschen. Solange man noch sich hatte, hatte man wenigstens noch sich. Vor meinem Haus begegnete ich zwei orientierungslosen besoffenen Punks: „Sache mol. Willst du ooch sur Bardie?“ Geistesgegenwärtig meinte ich, die sei bei mir. „Wie is’n so die Stimmung?“ – „Das hängt stark von euch ab.“ – „Und wie viele simma?“ – „Wenn ich meine Eltern noch wecke, fünf.“ Sie blickten skeptisch, ließen sich dann aber mit dem Argumet überzeugen, dass meine Mutter wie sie aus dem sächsischen Pirna kommt.