Das Beatmädchen

„Howl“ begegnete ihr beim Suppekochen: Diane di Prima erinnert sich an ihre Zeit mit Jack Kerouac, Allen Ginsberg und anderen Beatpoeten. Sex ist dabei kein kleines Thema – „Nächte in New York“

von FRANK SCHÄFER

Es gibt viele Legenden über die Konstitutionsphase der New Bohème der späten Vierziger- und Fünfzigerjahre, die sich dann bald die Beat-Generation nennen wird. Es sind Legenden über die wilden Anfangstage einer Avantgarde, die der amerikanischen Literatur noch einmal so richtig heimleuchtet – nicht nur der amerikanischen übrigens!

Diese Legenden stimmen alle. Müssen einfach stimmen! Wie da etwa, noch in den Vierzigern, Jack Kerouac den Times Square hinuntergeht und der Hipster-Stammvater Herbert Huncke auf ihn zukommt, zugeknallt mit Drogen, unten: „Mann, ich bin beat.“ Kerouac hatte damals noch nichts übrig für das schräge Getue der „cool cats“, kannte den Jazz noch nicht, nicht Bird Parker, nicht Dizzy Gillespie, trug auch vermutlich noch kein Kruzifix und keinen schwarzen Rolli, aber: „Irgendwie wusste ich sofort, was er meinte.“ Oder wie er sich dann etwas später an die Schreibmaschine setzt und Benzedrin-gestützt in drei Wochen das Manifest zu diesem „Irgendwie wusste ich …“ herauskloppt, auf einer einzigen Wachspapierfernschreiberrolle: „On the Road“ natürlich. Der „Versuch, alles vollständig und auf einmal zu sagen“, meinte Allen Ginsberg später.

Oder wie eben jener Ginsberg am fabulösen 13. Oktober 1955 in dem kleinen Club „Six Gallery“ in San Francisco den anderen heiligen Text der Beats zur Aufführung bringt, den ekstatisch-mystischen Hymnus „Howl“. Kerouac, der Bruder im Geist, begann mit geschlossenen Augen auf einer Weinflasche zu trommeln, ein archaisches Stammesritual imitierend, peitschte unter vielen „Go, man, go!“ und „Yeah!“ das Publikum und auch Ginsberg auf, bis der Prediger endlich niederkam mit seiner gar nicht so frohen Botschaft: „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, / wie sie im Morgengrauen sich durch die Negerstraßen schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze, / Hipster mit Engelsköpfen, süchtig nach dem alten himmlischen Kontakt zum Sterndynamo in der Maschinerie der Nacht / Die armselig und abgerissen und hohläugig und high wach hockten und rauchten im übernatürlichen Dunkel von Altbauwohnungen, in Jazz-Meditationen schwebend über dem Häusermeer der Städte.“

Dass diese Verse zu den großartigsten, schönsten Gedichtanfängen überhaupt gehören, lehren mittlerweile sogar die Akademien. Was diese Zeilen für den literarischen Nachwuchs damals bedeutet haben muss, ist kaum noch zu ermessen. Immerhin eine Ahnung davon vermittelt die Lyrikerin und Dramatikerin Diane di Prima in ihren 1969 zuerst erschienenen und noch im gleichen Jahr ins Deutsche übertragenen „Memoirs of a Beatnik“. Michael Kellner hat sie nun für Rogner & Bernhard noch einmal neu übersetzt, mit einem warmherzigen Nachwort und einem aufschlussreichen Kommentar versehen. „Nächte in New York“ heißt das Buch jetzt. Damals, in Jörg Schröders legendärem März-Verlag, hatte es den fast noch hübscheren Titel: „High! – Memoiren eines Beatmädchens“.

Das Beatmädchen di Prima fügt dem Reigen jedenfalls noch eine weitere hübsche Legende hinzu. Ihr begegnete „Howl“ beim Suppekochen: „Ich war voll und ganz damit beschäftigt, den Rindereintopf auszuteilen, warf deshalb nur einen kurzen Blick hinein – und war mittendrin … Ich war viel zu aufgeregt, um mich noch weiter um den Eintopf zu kümmern … Ging die paar Straßen zum Hudson hinunter und setzte mich auf den Pier an der Sixtieth Street, um weiterzulesen und darüber nachzudenken, was hier gerade passierte … Ich spürte, dass Allen nur die Vorhut war, nur die Vorhut einer viel größeren Sache sein konnte. Alle Menschen, die wie ich sich bisher versteckt und verkrochen hatten und das, was sie wussten, nur für eine Handvoll Freunde aufgeschrieben hatten …, die mit einer gewissen Verbitterung darauf gewartet hatten, dass alles den Bach runterging, dass die Menschheitsgeschichte im Blitz der Atombombe zu Ende gehen würde – diese Menschen würden jetzt hervortreten und sagen, was sie zu sagen hatten. Nicht viele würden ihnen zuhören, aber letztendlich würden sie einander hören. Ich war kurz davor, meine Brüder und Schwestern zu treffen.“

Vorerst trifft sie aber nur Ginsberg und Kerouac – was heißt hier nur? –, landet wie zwangsläufig mit ihnen und zwei Strichjungen im Bett, und eine wilde Orgie beginnt, eine Art zweite Initiation. Wie es sich gehört, wird sie mit Blut besiegelt – unter dem Einsatz eines benutzten Tampons: „Unter dem Applaus der ganzen Truppe zog ich schließlich den blutigen Talisman heraus und feuerte ihn quer durchs das Zimmer.“

Nun ja, man merkt diesen „Erotischen Erinnerungen“ vor allem zu Beginn sehr an, dass sie erstmals in Maurice Girodias’ berüchtigter Olympia Press erschienen sind, einem Verlag, der sich auf Bückware, gelegentlich mit literarischer Prätention, versteift hatte und immerhin auch solche Hämmer wie Nabokovs „Lolita“ und Burroughs’ „Naked Lunch“ im Programm führte. Di Prima arbeitete vorher schon eine Weile für Girodias und versah fade, diätetische Romane, die der zur Weiterverarbeitung angekauft hatte, mit der nötigen Fleischeinwaage. Nach einer Weile bat er sie, einen eigenen Roman über ihre New Yorker Jahre zu schreiben, offenbar weil er sich einen kommerziellen Synergieeffekt von der bad reputation des Beat-Milieus erhoffte.

Di Prima fing an zu schreiben, aber zunächst nicht ganz im Sinne des Verlegers. Der soll mehrfach Kapitel mit dem Vermerk „Mehr Sex“ zurückgeschickt haben. Man will das gern glauben. Wie fast alle Bücher des Genres entgeht auch dieses nicht der trübseligen, dem Repetitionszwang geschuldeten Monotonie des kleinen Reinrausspiels. Und auch die „bedeutendste Autorin der Beat-Generation“ (Verlag) verfügt nur über eine Sprache irgendwo zwischen Anatomiehandbuch, Bedienungsanleitung, Poesiealbum und Straßenstrich, wobei die Gosse fast noch am überzeugendsten klingt: „Dann fühlte ich seinen Schwanz in meiner Möse; es war wie nach Hause kommen.“

Nach einer Weile aber schreibt sie sich frei und setzt das Unvermeidliche maßvoller und motivierter ein. Es sind denn auch weniger die „Erotischen Nächte“, die diesen Erinnerungen aus den Fünfzigern ihren Reiz geben, sondern die hellen Spots, die di Prima auf die Szene wirft. Auf die Jazzclubs in Greenwich Village etwa, wo Charlie Mingus und Miles Davis ihr Blech im fairen Wettstreit zum Schreien brachten (meistens zog Mingus den Kürzeren). Auf die Gruppen-Codes, also das richtige „coole“ Benehmen, auf Tanzrituale, das Zusammenleben in heruntergekommenen, zugigen Wohnungen, starrend vor Schmutz, rattenverseucht und schimmlig, oder gleich auf der Straße. Auf die angesagten Bücher (Hesses „Demian“, Spenglers „Untergang des Abendlandes“, die sexualrevolutionären Schriften Wilhelm Reichs etc.) und eigentümliche Prä-Hippie-Events draußen auf dem Land: „Der Joint ging herum und herum. Ich wurde langsam das, was man ‚stoned‘ nennt. Ein klares, schönes Sich-Einstimmen auf alles und jeden, Menschen und Dinge. Hände fühlten überdeutlich Gras und Steine. Vollkommene warme Zufriedenheit und Unbeweglichkeit. Ich ließ meine Blicke über die schattigen Gesichter gleiten, atmete tief, betrachtete den fahlen Mond zwischen den Bäumen.“ Fast schon eine Szene aus „Easy Rider“!

Aber di Prima hält es nicht lange aus in der ländlichen Idylle. Sie braucht das schnelle, dreckige, kaputte Leben in Manhattan, ihr sozial randständiges Milieu, dessen Grenzen zur Kriminalität fließend, wenn nicht aufgehoben waren, das aber auch eine auf Duldsamkeit und Nächstenliebe basierende Solidarität untereinander verhieß. Vor allem braucht sie diese Szene-Anbindung zum Schreiben. Wenn sie sich nicht für gutes Geld als Aktmodell – und gelegentlich auch ein bisschen mehr – verdingt, sitzt sie in den einschlägigen Cafés und Diners, liest und notiert sich Gedichtzeilen. Sie frönt dem Leben einer Bohemienne, die sich ihr eigenes moralisches Universum erschafft und verächtlich den Rotz hochzieht vor den Lebensentwürfen der squares, der Bürger mit ihren Vorortseinfamilienhäusern, den gescheitelten Kindern, dem Ford Hudson und den wochenendlichen Fahrten ins Blaue.

Natürlich sind ihre Erinnerungen voller Übertreibungen und Idealisierungen – wer Realitätsnähe sucht, ist vermutlich mit dem ersten Teil ihrer im letzten Jahr erschienenen Autobiografie „Recollections of My Life as a Woman – The New York Years“ besser bedient. So gibt sie im Vorwort der amerikanischen Neuauflage von 1987 durchaus zu, dass gerade bei den Sexszenen – selbstredend! – eine Menge Fantasie im Spiel war. Mit einigen komplett angezogenen Freunden hat sie dann nachträglich ausprobiert, „ob eine bestimmte Verrenkung machbar war“. Ein wenig verwundert ist man auch über die selbstbewusste Emanzipiertheit der „Chicks“ in der Szene, die wohl auch nicht ganz der historischen Realität entsprochen hat, denn ungeachtet allen Nonkonformismus war die Beat-Gemeinde doch ziemlich chauvinistisch – nicht zuletzt Kerouac.

Aber es steckt eine besondere ästhetische Wahrhaftigkeit in diesen Erinnerungen. Diane di Prima macht die Ambiguität des Wortes „beat“ erfahrbar, dieses Oszillieren zwischen Glückseligkeit und Geschlagenheit. Sie führt uns den Hipster in seiner ganzen Zerissenheit vor.

Diane di Prima: „Nächte in New York. Erotische Erinnerungen“. Aus dem Amerikanischen von Michael Kellner. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 2002. 206 S., 13,80 €