„Lesen auch im Dunkeln“

Heute feiern Blinde den Welt-Braille-Tag. Dank der hubbeligen Punktschrift können sie schriftlich kommunizieren. Jürgen Lubnau, Präsident des Blindenverbandes, erklärt die Vorzüge der Schrift

Interview BIANCA KOPSCH

taz: Herr Lubnau, ist die Brailleschrift nicht sauschwer zu erlesen?

Jürgen Lubnau: Im Gegenteil: Braille ist einfach und genial! Mit nur sechs Punkten kann man das gesamte Alphabet mit seinen 26 Buchstaben darstellen, das ist fantastisch. Man kann mit Braille alles ausdrücken, wie in Normalschrift auch.

Aber es dauert doch lange, bis man damit umgehen kann?

Nein. Das Punktesystem kann man an einem Tag verstehen. Man kann auch sofort schreiben, wenn man eine Vorlage hat und eine Schablone benutzt, um die Punkte mit dem Griffel ins Papier zu sticheln. Nur das Lesen dauert am Anfang etwas länger. Dafür braucht man Übung – und Fingerspitzengefühl. Mit der Zeit kommt dann aber auch die Schnelligkeit.

Wie schnell kann’s gehen?

20 Seiten pro Stunde kann ich schaffen, allerdings sind die auch lockerer bedruckt als bei Normalschrift.

Was bedeutet die Entwicklung der Punktschrift für die Blinden?

Mit Braille hat die professionelle Bildung blinder Menschen begonnen. Früher wurden Buchstaben aus Draht gebogen, um einen Text herzustellen. Man hat eben improvisiert. Heute ist eine qualifizierte Berufsausbildung und -ausübung ohne die ausgearbeitete Blindenschrift kaum möglich. Jeder Blinde kann in der Schule oder speziellen Einrichtungen lesen und schreiben nach der Braillemethode lernen. Das ist auch absolut notwendig.

Ist Braille als Kommunikationsmittel im Computerzeitalter nicht schon fast überholt? Es gibt Spracherkennungsprogramme, die Texte übersetzen, es gibt Aufnahmegeräte, Hörbücher, Radio, Fernsehen, Telefon …

Das sind alles willkommene Hilfsmittel. Und natürlich können viele Blinde gut mit dem Computer umgehen und mit dem Zehnfingersystem „blind“ in Normalschrift schreiben. Trotzdem ist die Brailleschrift unerlässlich: Ein Sachbearbeiter muss sich auch handschriftliche Notizen machen können, ein Jurist Aktenvermerke, sonst könnten sie nicht effizient arbeiten. Sprachaufnahmen sind dafür nur begrenzt gut, weil es viel schwieriger ist, eine bestimmte Stelle wiederzufinden. Mein eigener Schreibtisch ist voll von Notizzetteln. Die kann ich dann bei Bedarf schnell durchgehen und überfliegen, das kostet kaum Zeit.

Aber Sie benutzen auch technische Hilfsmittel?

Ein Computer mit Braille-Display zum Abtasten und ein Blindenschrift-Drucker erleichtern mir die Büroarbeit. Diese Ausstattung ist sehr praktisch, aber leider auch unglaublich teuer: Ein Braille-Drucker kostet ungefähr 5.000 Euro, das Display sogar zwischen 6.000 und 15.000.

Sind Sie eine Leseratte? Wie wichtig ist Braille für ihr Leben?

Ich lese sehr viel. Beruflich muss ich das natürlich. Ich mache ja einen Bürojob mit Verwaltungsarbeit, da gehört Lesen einfach dazu. Aber auch privat lese ich viel. Ich habe verschiedene Blindenzeitschriften abonniert und lese außerdem gerne Bücher. Neben Klassikern wie Goethe gibt es ja mittlerweile auch modernere Autoren wie Günter Grass in Braille-Übersetzung. An Spitzentagen schaffe ich 120 Seiten.

Werden da die Finger nicht wund?

Nein. Das größte Problem beim Lesen ist der Materialverschleiß: Brailleschrift braucht mehr Platz als Normalschrift. Der Duden in Blindenschrift besteht aus 25 Bänden à zehn Zentimeter. Dafür allein bräuchte man ein zweieinhalb Meter langes Regal. Das kann man sich ja nicht in die Wohnung stellen. Deswegen leihe ich mir auch Bücher in der Bücherei aus, die ich dann wieder zurückgebe, sonst hätten wir zu Hause ein Lagerproblem.

Welche Vorzüge hat Braille – auch für Sehende? Werden Sie von Sehenden manchmal um Ihre Braille-Kenntnisse beneidet?

Lesen, auch wenn es dunkel ist, im Flugzeug, im Auto, unterm Tisch – das ist alles kein Problem. Einen Vortrag zu halten, ohne aufs Blatt zu gucken und dabei mit den Fingern alles abzulesen, auch nicht. Das hat bestimmt schon den ein oder anderen Sehenden beeindruckt, der mich auf einer Veranstaltung am Rednerpult erlebt hat.

Und wie gehen Sehende mit Braille um?

Für viele Sehende hat die Blindenschrift etwas Mystisches. Es ist eine Art Geheimschrift. Ich kenne einige Lehrer, die Braille können. Einer davon macht sich auch privat Notizen auf diese Art. Vielleicht, damit es keiner versteht, vielleicht, um etwas Besonderes zu machen.