Rechristianisierung Europas

Die Debatte um den türkischen EU-Beitritt offenbart ein Selbstverständnis aus dem 19. Jahrhundert:Die Europäische Union soll zum christlichen Zitadellenstaat gegen den Islam aufgerüstet werden

von ROBERT MISIK

„Wer sich selbst und andre kennt / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen.“ Goethe

Auf dem Rücken der Kultur schleicht sich eine seltsame Religiosität in den europäischen Diskurs. Europa hat in den vergangenen Wochen sein ganz Anderes entdeckt: den Islam. Ein wachsendes Segment europäischer Intellektueller wirft sich an die Front des „Clash of Civilizations“ – wie imaginiert die auch immer sein mag. Egal, ob es sich um die terroristische Bedrohung westlicher Metropolen durch islamistische Sekten handelt oder um den Drang der Türkei in die Europäische Union – in den Feuilletons wird fleißig an der Zitadelle gemauert.

Nach den Anschlägen des 11. September brauchte es nur einen Augenblick, bis die Frage hochkam, ob nicht die islamische Kultur als Ganze immanent aggressiv ist. So fragte der unvermeidliche Rudolf Burger im eleganten deutschen Journal Merkur, ob „diese große und starke kulturelle Tradition überhaupt modernisierungsfähig ist“, um dann in der etwas weniger eleganten Zeitschrift Format forsch zur Sache zu kommen: „Der Islam ist eine feindliche Religion.“

Die These vom islamisch-westlichen Antagonismus fräste sich mehr und mehr ein in den europäischen Debattenkosmos. Um aufzufallen, brauchte es bald veritable Hassschriften wie die der italienischen Autorin Oriana Fallaci, die mit ihrer Philippika gegen die „Kameltreiber“ („Die Wut und der Stolz“) einen wahren Publikumsrenner landete.

Keineswegs mehr unerwartet kam dann der antitürkische Furor, der in den vergangenen Wochen aus Kommentarspalten und Debattenseiten der deutschen Blätter quoll.

„Der Mief der 50er-Jahre kommt einem in die Nase“, formuliert der Soziologe Natan Sznaider. Europäische Kultur wird wieder als eine christlich-abendländische behauptet; doch was vordergründig unschuldig tut, als handele es sich nur um einen Hinweis auf einen mentalitätsprägenden Traditionsstrang, schwingt sich schnell auf zum Loblied auf den eigenen Reifegrad: Nur das christliche Europa erlebte Trennung von Kirche und Staat, erlebte Säkularisierung, nur hier seien Demokratie und Achtung vor dem Anderen denkbar, hier ist die Wiege des universalen Respekts vor Menschenrechten.

Ussama Bin Laden sei Dank – endlich darf es wieder gesagt werden! Die EU ist „ein christlich geprägter Staatenverein“, von dem die Türkei „als ein muslimischer Staat durch eine tiefe Kulturgrenze getrennt“ ist – so formulierte der ansonsten geistreiche Historiker Ulrich Wehler. Sein nicht minder renommierter Kollege Heinrich August Winkler sieht das ganz ähnlich. „Die europäische Idee wäre tot“, würde die Türkei der Union beitreten, denn in einem Verband mit solch unterschiedlichen Mitgliedsstaaten könne wohl nicht ernstlich mehr an ein „europäisches Wirgefühl“ appelliert werden. Und diese Unterschiede „haben etwas mit Christentum und Islam zu tun“.

Dass die Türkei mehrheitlich islamisch ist, schlägt aus dieser Perspektive paradoxerweise ebenso zu ihrem Nachteil aus wie ihre strikt areligiöse Raison d’être. Zwar haben die türkische Generalität und die säkularisierte kemalistischen Eliten bis in jüngste Zeit ein allzu machtbewusstes Auftreten eines politischen Islam unterbunden. Doch beides – sowohl Islam als auch verordnete Säkularisierung – passt für die Ideologen der spirituellen Wehrhaftigkeit schlecht zur exklusiv christlich grundierten europäischen Identität.

Denn da mögen sich Identitäten mischen, täglich aufs Neue Patchwork-Existenzen begründet, transnationale Netzwerkpolitik erprobt und Homo-Ehen geschlossen, da mag mit viel Pathos die zweite, reflexive Moderne ausgerufen werden, eines bleibt für immer unabänderlich: Morgenland und Abendland stehen sich fremd, verständnislos und feindlich gegenüber.

Der Essentialismus, der sich hier äußert, ist einerseits zutiefst deutsch – die konservative deutsche Intelligenz hat sich noch nie lange damit aufgehalten, unterschiedliche Mentalitäten und Kulturen fürs Erste einmal nur zu vergleichen oder gar auf Kompatibilitäten hin zu untersuchen. Immer wurde hier Ausschau nach einem tiefen, gleichsam unveränderlichen Volksgeist gehalten, nach der Seele einer Kultur – fest davon überzeugt, Identitäten seien für alle Ewigkeiten fixiert und zementiert.

Da fällt gar nicht auf, dass dieser Argumentationsmodus im Handumdrehen erschlägt, was er zu behaupten versucht: Denn wie weit her kann es, zum Ersten, mit der gefeierten Säkularisierung und Modernisierung – zu der Europa angeblich exklusiv fähig ist – denn sein, wenn beim geringsten Anlass schon das christliche Abendland gegen den Islam in Stellung gebracht wird? So wie dieser Gang der Argumentation die Türkei islamisiert, so „christianisiert er die EU“ (Claus Leggewie). Und wie krisenfest ist, zum Zweiten, die solcherart gefeierte Achtung vor dem Anderen, wenn sich das europäische Denken so schnell als „aggressiv und verletztend“ (so der Hanser-Verleger Michael Krüger) erweist?

Denn schließlich ist für die türkischen Eliten, für die traditionell kemalistischen ebenso wie für die gemäßigten, sich gerade reformierenden Islamisten, der Beitritt zur Europäischen Union das Zukunftsprojekt. Welchen Dienst die antimuslimischen Historiker, Leitartikler und Essayisten den Advokaten einer weiteren Demokratisierung in der Türkei oder den Verfechtern eines prowestlichen Islam erweisen, lässt sich leicht denken. Dass der Beschluss des Kopenhagener EU-Gipfels, den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf ein unbestimmtes Datum zu verschieben, nicht zu einem Rückschlag der türkischen Reformdynamik führen dürfte, ist nur der beinahe unfassbaren Disziplin der neuen Regierenden in Ankara zu verdanken. Einen „historischen Sieg“, nannte Recep Tayip Erdogan, der reformorientierte Islamistenführer und Chef der regierenden AK-Partei, tapfer die lauwarme Einladung zum Rendezvous.

Wobei es, zugegeben, durchaus Argumente gegen eine EU-Integration der Türkei gibt. Auch wenn die Türkei, um die Vorbedingungen für Beitrittsverhandlungen zu erfüllen, die Todesstrafe abgeschafft, Rundfunk- und TV-Sendungen sowie Schulunterricht in kurdischer Sprache erlaubt, den Ausnahmezustand in den Ostprovinzen aufgehoben, die Folter verboten, das Vereinsrecht liberalisiert und das Demonstrationsrecht abgesichert hat, bleibt die demokratische Kultur fragil. Die Türkei wäre, gemessen an der Bevölkerungszahl, das zweitgrößte EU-Land. Gleichzeitig wäre die Türkei das mit Abstand ärmste EU-Land. Selbst das Pro-Kopf-Einkommen in Griechenland, einem der ärmsten Länder der Gemeinschaft, ist viermal höher als das der Türkei. Außerdem bekäme die EU im Falle eines türkischen Beitritts Grenzen mit dem Irak, Iran, Syrien, Armenien, Georgien – die Frage der gemeinsamen Sicherheitspolitik der EU stellte sich dann auf weit drastischere Art als bisher. Nicht zuletzt könnte eine derartige Erweiterung jede weitere Vertiefung der Integration zusätzlich erschweren. Insofern ist die Warnung vor den Risiken einer „Überdehnung“ (Romano Prodi) der EU keineswegs unberechtigt. All diese Einwände haben viel mit praktischen Erwägungen zu tun – doch nichts mit dem islamischen Charakter der Türkei, im Gegenteil: Denn dass die Türkei der prowestlichste unter den islamischen Großstaaten ist, ist das stärkste Argument für einen Beitritt.

Mögen sich die intellektuellen Frontkämpfern in ihrem heroischen Gestus noch so gefallen, in dem sie ein letztes Mal den antitürkischen Abwehrkampf der vergangenen Millenniumsmitte nachstellen (und mit dem sie manche der Konflikte, vor denen sie warnen, erst so richtig befeuern), so ist doch – um es mit den Worten des Pariser Politikplaners Jean-Daniel Tordjman zu sagen – „die größte Herausforderung Europas im 21. Jahrhundert: die Überwindung der zwischen Islam und Abendland sich abzeichnenden Konfrontation“.

Die Chancen steht gar nicht so schlecht, dass die Türkei hierfür das Laboratorium wird. Nach einem Jahrhundert der autoritär-laizistischen Modernisierung regiert am Bosporus eine gemäßigte, reformistische islamische Partei, die die innere demokratische „Selbstverwandlung“ (wie die Türken ihre Perestroika nennen), mit Schwung fortführt. Dies bietet, wie Gustav Seibt in der SZ bemerkte, die Chance auf „die modellhafte Versöhnung von Islam und Verfassungsstaat“. Welche Chance, ist man versucht zu fragen, ist denn ein Risiko wert, wenn nicht diese?

Überdies: Da der Andere immer mehr über unsere Projektionen aussagt als über den realen Gehalt der Differenz, die hier angeblich zum Tragen kommt, so böte die Debatte über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union die Möglichkeit der Selbstverständigung des Westens über sich selbst, und zwar in zweifacher Hinsicht.

Erstens: Wir müssten uns mit unseren Stereotypen vom „Orientalen“ konfrontieren; von jenem Orient, dessen bloße Bestimmung ist, nicht der Okzident zu sein, und der alle sonstigen Differenzen nivelliert, vom Konfuzianismus bis zum arabischen, vom indonesischen bis zum türkischen Islam, vom Hinduismus bis zum Buddhismus. Noch bei den Klügsten und Aufgeklärtesten hält sich eine Traditionslinie von Dünkel und Ressentiment, die West gegen Ost, Individuum gegen Umma, Aufklärung gegen Dunkelheit, Menschenrecht gegen Gotteswort setzt. Die Kehrseite der Angst vor dem Anderen ist die Faszination des Orient-Imagos, von Kasbah, Basar, Minarett, Dampfbad und Serail.

Dass diese Klischees nicht von lebenden deutschen Geschichts- und österreichischen Philosophieprofessoren erfunden wurden, lehrt ein schneller Blick in Hegels „Philosophie der Geschichte“, worin die vergangene Blüte des Morgenlandes noch wie bei Goethe besungen wird, der Mohammedaner aber nur mehr als „grausam, listig, tapfer, großmütig im höchsten Grade“ erscheint, fähig zu Begeisterung der Begeisterung wegen, die keiner weiteren Ziele bedürfe, und der von welthistorischer Bedeutung längst „in die größte Lasterhaftigkeit“ versunken ist. Für Hegel führte der Aufstieg des menschlichen Geistes bekanntlich durch das Nadelöhr des westlichen Christentums – eine Vorstellung, die auf viel plumpere, vor allem aber aggressivere Weise nunmehr eine Renaissance erfährt.

Zweitens: Eine Veränderung der Türkei bis zur Europareife – und auch nach Beginn von Beitrittsgesprächen dürften die Verhandlungen sich, angesichts der Dimension der Aufgaben, wohl 15 bis 20 Jahre ziehen – könnte eine Wandlung des europäischen Bewusstseins selbst bewirken. Eine Wandlung, die heilsam wäre, gerade weil sich dann nämlich kaum jemand mehr der Illusion hingeben könnte, dass am Ende des Integrationsprozesses eine Art von Homogenität und Identität stünde, wie wir sie aus dem Nationalstaat kennen.

Die Debatte über die Türkei zeigt gerade, dass Europa, während es am Gewebe eines supranationalen Netzwerkstaats wirkt, die Fragen des 19. Jahrhunderts im Kopf hat. Das künftige Europa wird aber durch Gleichzeitigkeit und Nebeneinander von Traditionen, von kulturellem und ethnischem Pluralismus, von einem keineswegs homogenen „Wir“ geprägt sein und bedarf, wie das der deutsch-israelische Historiker Dan Diner nennt, „eher einer imperialen Offenheit“, begründet auf gemeinsamen Interessen und politischen Grundwerten (etwa dem europäischen Wohlfahrtsmodell), vor allem aber auf ein paar wenigen wesentlichen Prinzipien: universelle Menschenrechte, Pluralismus und Demokratie.