Krank? Beweisen Sie das!

von HANNA GERSMANN

Birgit Kley ist vergiftet. Jahrelang hat die Büroangestellte Toner-Gase eingeatmet, die beim Kopieren und Drucken austraten. „Ohne Medikamente läuft jetzt nichts mehr“, sagt die ehemalige Büroangestellte. Toner enthalten oft einen Cocktail aus giftigen Chemikalien wie Benzol, Nickel und Quecksilber. Vor drei Jahren musste Birgit Kley ihren Job in einem Hamburger Rechenzentrum aufgeben. „Man verdient Geld und wird dann so ins Minimum gedrückt“, sagt die 41-Jährige verbittert. Nach dem anfänglichen Krankengeld wurde das Arbeitslosengeld eingestellt, jetzt lebt sie von Arbeitslosenhilfe.

Rund eine Million Chemiekranke gibt es in Deutschland, schätzen Umweltmediziner. Doch egal ob Lackierer mit Lösemittelvergiftungen oder Friseurinnen mit Haarfärbemittelallergien – ihre Leidenswege sind immer lang. Und immer sind sie auch ein Fiasko für die Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen. Die Betroffenen hören auf zu arbeiten, zahlen nicht mehr ein, kosten aber enorm: Pro Jahr sind das allemal Summen im zweistelligen Milliardenbereich, auch wenn offizielle Berechnungen bisher fehlen (siehe oberen Kasten).

Einige werden geheilt

Derweil wächst das weltweite Giftaufkommen stetig weiter: Zu den 16 Millionen bekannten Chemikalien kommen laut Greenpeace täglich rund 1.600 neue hinzu. Trübe Aussichten für die eh gebeutelten Sozialkassen.

Der Versicherungszweig, dessen Aufgabe es eigentlich ist, berufsunfähig Gewordenen ihren Lebensstandard langfristig zu erhalten, trotzt dieser Realität: die Berufsgenossenschaften. Sie werden direkt von den Firmen beitragsfinanziert und sollen für diejenigen aufkommen, die im Job krank werden. Und obwohl die Fälle von Berufskrankheiten steigen, verkündete etwa die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie im vergangenen Jahr, sie könne ihre Beiträge senken – zum fünften Mal in Folge. „Unsere Beiträge sind stabil, sogar leicht rückläufig“, jubiliert der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaft (HVBG) auf seiner Homepage www.hvbg.de. „Bessere Vorsorge und weniger Arbeitsunfälle“, führt HVBG-Sprecher Andreas Baader zur Begründung an.

Die Statistik sagt etwas anderes: Allein im Jahr 2001 meldeten – zumeist über ihre Ärzte – 68.000 Menschen eine Berufskrankheit. Das sind dreimal mehr als noch vor 30 Jahren. Eine Rente bekommen, laut Baader, letztlich nur 6 Prozent der Antragsteller. Einige werden geheilt, andere umgeschult. Viele aber scheitern an Medizinern, die in ihren Gutachten bestreiten, dass die Ursache der Leiden am Arbeitsplatz zu finden ist.

Wie Birgit Kley. Ihr sagte der Betriebsarzt bereits 1993: „Stopp, so können Sie nicht weiter arbeiten“ – und teilte der zuständigen Berufsgenossenschaft seinen Verdacht auf eine vorliegende Berufskrankheit mit. Heute, zehn Jahre später, hat Kley eine Odyssee von einem Gutachter zum nächsten hinter sich. Ihr wurde etwa bescheinigt, sie sei „eine gemäßigt gepflegt gekleidete Patientin“ – ihr wurde nicht bescheinigt, dass der Toner am Arbeitsplatz sie geschädigt hat. Der Hamburger Mediziner, der sie Ende letzten Jahres für die Berufsgenossenschaft untersuchte, erklärte ihr schließlich: „Es gibt keine anerkannte Methode, die das wissenschaftlich nachweisen könnte.“ Im Klartext: Die Berufsgenossenschaft zahlt nicht, Birgit Kley bekommt auf absehbare Zeit keine Rente.

Denn das Argument „Wissenschaftlich nicht ausreichend bewiesen“ hält zumeist für 20 bis 30 Jahre. So verarbeitete die Bauindustrie Asbest, noch lange nachdem die Krebsfälle sich häuften. Mediziner warnten bereits in den Sechzigern vor den Krebsfasern, Spritzasbest wurde erst 1979 verboten, das Totalverbot kam schließlich Anfang der Neunziger. „Die Asbestindustrie hat mit äußerst harten Bandagen gegen Regelungen jeder Art gekämpft“, bestätigt Experte Folke Dettling vom Umweltbundesamt. Die Industrie räumte zwar ein, dass die Fasern in Lunge und Bauchfell gelangen könnten, hielt aber lange Zeit dagegen, es sei nicht belegt, dass sie dort auch schaden.

Falsch begutachtet

Pech für Birgit Kley: Die Problematik der Toner ist vergleichsweise neu. Erst vor zwei Jahren schloss sich eine Gruppe von Betroffenen zur Interessengemeinschaft der Tonergeschädigten (ITG; www.krank-durch-toner.de) zusammen. Ihr liegen derzeit rund 300 Verdachtsfälle vor. Auch hier mauert die Industrie. Zwar bestreiten die Hersteller nicht, dass Toner viele giftige Stoffe enthält. Aber „Gift ist eine Frage der Dosis“, wehren sie in einer gemeinsamen Broschüre des Branchenverbandes Bitkom und der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft ab (www.bitkom.org).

Birgit Kley kann nun vor dem Sozialgericht gegen ihre Berufsgenossenschaft klagen. Aber auch da sind ihre Aussichten auf Erfolg schwindend gering. „Trotz ihres Namens entscheiden Sozialrichter nur in den seltensten Fällen für die Umweltkranken“, sagt Professor Erich Schöndorf, der heute in Frankfurt am Main Umweltrecht lehrt. Früher war er Oberstaatsanwalt und Ankläger im Holzschutzmittelprozess, dem bislang längsten Umweltstrafprozess der Bundesrepublik. Er weiß: „Es wird gnadenlos falsch begutachtet.“

Die Industrie fürchtet Präzedenzfälle, in denen der Zusammenhang zwischen einer Chemikalie und einer Krankheit anerkannt wird. Ein Urteil zugunsten von Birgit Kley etwa könnte alle Hersteller von Druckern, Kopierern und Faxgeräten Millionen kosten.

Rot-Grün enttäuscht

Die Berufsgenossenschaften – ihr Etat beläuft sich auf 8,8 Milliarden Euro – haben für derartige Fälle gut vorgesorgt und ein dichtes Netz von „Verharmlosern“ gesponnen. So nennt Peter Ohnsorge vom Deutschen Berufsverband der Umweltmediziner die vielen Ärzte und Juristen – zumeist hoch dotierte Wissenschaftler von Universitäten –, die mit den Berufsgenossenschaften und der Industrie zusammenarbeiten. Da geht der nächste lukrative Auftrag gleich noch einmal an den Gutachter, der sich zuvor bewährt hat und bereitwillig aufschreibt, dass die Allergie nichts mit den Lösemitteln zu tun hat.

Die „Kleys“, aber auch Umweltmediziner und -juristen hofften 1998 auf Rot-Grün. Die ehemalige grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin versprachen, Umweltkranken zu helfen, als sie 1999 die bis heute laufende Aktion „Umwelt und Gesundheit“ (www.apug.de) ins Leben riefen. Ein Jahr später befand die Koalition, das Treiben von Gutachtern in der Umweltmedizin sei „reformbedürftig“. Sie forderte: „Gutachter müssen grundsätzlich unabhängig von Krankenkassen, Berufsgenossenschaften sowie der Industrie sein.“ (Bundestagsdrucksache 14/2767 unter http://dip.bundestag.de/parfors/parfors.htm).

Heute – eine Legislaturperiode weiter – herrscht Ernüchterung: „Es hat sich nichts geändert“, sagt Umweltrechtler Schöndorf, „der Staat hat auf breiter Front versagt.“ Die Lobbys waren stärker. Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD, Wolfgang Wodarg, sagt entschuldigend: „Die Arbeitgeberverbände haben immer abgewimmelt.“ Wodarg, selbst Internist, verspricht: „Ich werde das wieder angehen.“