Der Meisterschüler

Beim Dirigenten Christian Thielemann verbindet sich eine konservative Weltanschauung mit konservativer Kunstauffassung. Vom Klassik-Feuilleton wird er dafür zur musikalischen Leitfigur emporgeschrieben. Anzeichen für einen Stimmungswandel?

Zwei Namen fallen oft im Zusammenhang mit ihm: Furtwängler und Karajan

von BJÖRN GOTTSTEIN

Im August 2000 erlebt ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung in Bayreuth das Festival-Debüt eines Dirigenten: Christian Thielemann, damals 41 Jahre alt, dirigiert die „Meistersinger von Nürnberg“. Thielemann hatte bis dahin als viel versprechender Nachwuchsdirigent gegolten. Aber seine „Meistersinger“ geraten offenbar recht gut. Sein Kunstgriff liegt in der Wahl schleppender Tempi. Das ohnehin schwergewichtige Werk, das sonst etwas über vier Stunden dauert, wird auf geschlagene fünf Stunden Musik ausgewalzt.

Für den Kritiker wird diese Aufführung zu einer Offenbarung, sein Urteil fällt überschwänglich aus: Es sei dem Dirigenten nicht nur gelungen, „dem Orchester seinen klugen und musikalischen Willen aufzuzwingen“. Auch für die inhaltliche Auseinandersetzung setzt es Lob: Thielemann habe den Text nicht „feige entgermanisiert“: „Deutsche Vergangenheit wird stolz imaginiert. So träumt sich ein Volk seine Jugend.“

Nun ließe sich diese Rezension mit ihrem nationalstolzen Flair leicht als schwacher Moment eines sonst integren und altersweisen Kritikers, Joachim Kaiser, bagatellisieren. Tatsächlich aber reiht sich dieser Text nahtlos in einen weitläufigeren Diskurs ein. Denn im deutschen Musikleben wird derzeit die Sehnsucht nach konservativen Werten kultiviert, und dabei wird vor fragwürdigen Kategorien wie „Meister“ und „Volk“ nicht mehr zurückgeschreckt. Christian Thielemann ist der Musiker, auf den diese Sehnsucht projiziert wird.

Aber Thielemann ist nicht versehentlich in diese Rolle geraten. Wie kein Zweiter verkörpert er den neuen konservativen Vogue. Sein Büro schmückt ein Porträt Friedrichs des Großen. Er führt seinen Erfolg auf Pflichtbewusstsein zurück und darauf, „dass ich mir keine genialischen Lethargien erlaube“. In Interviews wehklagt er, dass er sich durch den Jetset „entwurzelt“ fühle, aber auch, dass er sich durch „diese ganze verkorkste Political-Correctness-Diskussion in Deutschland“ nicht den Spaß an der Musik verderben lassen werde. Als er unlängst für den TV-Sender Arte mit Christoph Schlingensief durch das Berliner Nachtleben taumelte und sein Begleiter einem pöbelnd schnorrenden Punk einen Obolus entrichtete, wähnte Thielemann sofort „ein Messer im Rücken“.

Seit 1997 ist Thielemann Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin. Er pflegt ein recht schmales Repertoire und dirigiert im Wesentlichen deutsche Werke von Richard Wagner bis Richard Strauss. Man hat ihn wiederholt dafür gescholten, regelrecht wutschnaubend, als er im Juli 2000 ein Werk des strammen Nationalisten Max von Schillings (1868–1933) dirigierte. Thielemann sei ein Musiker, „der das Deutsche um seiner selbst willen liebt“, wetterte die Berliner Zeitung. Sein Dirigat erinnere „einmal mehr an das Klischee deutsch-nationalistischer Kriegsführung: Immer druff und viel hilft viel.“

Zwar wehrt sich Thielemann gegen das Bild vom deutschtümelnden Kapellmeister. Dass man behaupte, er sei rechtskonservativ, weil er Brahms und Pfitzner liebe, hält er für eine „Un-ver-schämt-heit“. Und auch die wiederholt gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe des Antisemitismus hat er jedes Mal heftig dementiert. Ganz ausräumen konnte er sie nicht. In einem Interview auf die antisemitischen Züge angesprochen, mit denen Wagner einzelne Figuren seiner Opern stigmatisiert – der Beckmesser in den „Meistersingern“, die Kundry im „Parsifal“ –, antwortet er: „Ich finde es schön, dass man es nicht beweisen kann.“ Nanu, stolpert man als Leser. „Das halte ich für ausgemachten Unsinn“, hätte man erwartet. Oder: „Es ist schade, dass man es nicht beweisen kann, weil wir so mit dieser Ungewissheit leben müssen.“ Aber dass es schön sei, dass man es nicht beweisen kann, kann doch wohl nichts anderes bedeuten, als dass man den unterschwelligen Antisemitismus Wagners als eine positive Qualität schätzt, die auszuspielen einem freisteht.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass Thielemanns Durchbruch ausgerechnet beim Bayreuth-Debüt mit den „Meistersingern von Nürnberg“ gelang. Es ist Wagners problematischstes Werk. Das gilt vor allem für den Schluss, der vor „welschem Dunst mit welschem Tand“ warnt, denn: „Was deutsch und echt, wüßt’ keiner mehr, lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr’.“ (Noch Adorno hatte versucht, das Werk zu retten und dafür plädiert, diesen Schluss umzuschreiben. Ein derartiger Eingriff hätte das Problem wohl kaum gelöst. Doch geht es entschieden zu weit, jeden Versuch, die Oper von ihrem nationalistischen Tonfall zu befreien, eine „feige Entgermanisierung“ zu nennen.)

Nicht nur Wagners „Meistersinger“ aber scheinen Thielemann zu liegen, sondern das ganze Ambiente Bayreuths, der Hochburg musikalisch-konservativer Wertpflege. Den Intendanten, Wolfgang Wagner, erlebe er wie eine „dominierende Vaterfigur“. Es herrsche „eine echt preußische Atmosphäre, die auf Begeisterung und Ehrfurcht beruht“. Jeder sei gut beraten, wenn er lerne, sich unterzuordnen: „Für Arroganz und Selbstüberhebung ist hier kein Platz.“ Deutsche Tugenden, Bodenständigkeit, Fleiß, Pflichtbewusstsein, Disziplin, Demut und kleinbürgerliche Ängste: Man kann Thielemann gar nicht, wie seine Apologeten behaupten, „in die rechte Ecke stellen“, denn da steht er ja schon. Und man muss auch kein Spezialist der forensischen Wortschatzanalyse sein, um zu erkennen, wie bei Thielemann eine konservative Weltanschauung und eine konservative Kunstauffassung eins werden.

Das deutsche Feuilleton hat Thielemann mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln aufgebaut. Während die kritischen Stimmen in den letzten zwei Jahren allmählich verstummten und negative Urteile nachsichtig relativiert wurden, schrieben sich seine Befürworter, den Rückenwind des Zeitgeists nutzend, den Dirigenten als musikalische Leitfigur zurecht. Die Welt widmete dem angeblich „herausragenden deutschen Dirigenten der 90er-Jahre“ gleich mehrere Porträts. Und in der Süddeutschen Zeitung wurde gar polarisiert und gespalten. Die einen – und das sind fraglos die Guten – schätzten Thielemann, „weil er sich für die Unzeitgemäßen interessiert“. Die anderen „nehmen ihm übel, dass er sich niemals den schnell wechselnden Moden der Theaterwelt unterworfen hat“, werden Thielemanns Kritiker mit durchsichtiger Rhetorik zu Geschmacksleichtgewichten degradiert.

Die PR-Maschine um Christian Thielemann würde weniger laut poltern, wäre Thielemann nicht Dirigent. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter etwa musste sich seinerzeit noch mit dem Schema „Fräuleinwunder“ zufrieden geben. Aufgrund der intimen Sphäre, die eine Solistin umgibt, eine Geigerin zumal, ließ sich Mutter nicht einfach als staatstragendes Ereignis vermitteln. Bei einem Dirigenten liegt die Sache anders. Der Dirigent steht allein und erhöht. Die Masse um ihn herum hingegen, das folgsame Orchester und das stillhaltende Publikum, sitzt erniedrigt. Das erkannte und beschrieb Elias Canetti 1960 in seinem gesellschaftlichen Psychogramm „Masse und Macht“: „Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten“, heißt es dort. „Während des Spiels ist der Dirigent für die Menge im Saal ein Führer.“ Es liegt also nahe, Begriffe wie „Nation“ und „Meister“, die dem Diskurs der Macht entlehnt sind, auf einen Dirigenten zu applizieren.

Wäre er nicht Dirigent – das Raunen um Thielemann wäre weniger laut

Zwei Dirigenten werden auffallend häufig im Zusammenhang mit Thielemann genannt: Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan. Während Thielemann den Vergleich mit Furtwängler als seinem erklärten Vorbild sucht, wird das Prädikat „ein junger Karajan“, dessen Assistent er ja einst gewesen ist, meist von außen an ihn herangetragen. Sowohl Furtwängler als auch Karajan nährten das Bild vom auratischen, genialen und willensstarken Dirigenten. An ihnen gedieh der Kult des Meisters. In ihnen erkannte man die legitimen Hüter der deutschen Sinfonik. Um Furtwängler kursieren bis heute grässliche Mythologisierungen vom Schlage: ein Orchester probt, es läuft schlecht, plötzlich verändert sich der Klang, beginnt die Musik zu leuchten, die Musiker blicken staunend auf und erspähen Furtwängler, der soeben den Saal betreten hat. Karajan hingegen hat sich in erster Linie selbst inszeniert, indem er zum Beispiel – unnahbar und wie von der Musik besessen – mit geschlossenen Augen dirigierte.

Diesen Vorläufern zum Trotz wäre ein „Fall“ wie der des Christian Thielemann vor zehn Jahren noch kaum denkbar gewesen: Einen jungen Hoffnungsträger wie Ingo Metzmacher hätte man seinerzeit nie auf die Rolle des „deutschen Maestros“ festzulegen versucht. Das liegt gewiss auch am musikalischen Profil dieses Künstlers, dessen ästhetischer Horizont eine derartige Vereinnahmung wohl gar nicht erst zugelassen hätte. Aber es spielt noch etwas anderes eine Rolle: Die deutsche Musikkritik war, wo sie nicht in provinzieller Biederkeit verdorrte, über Jahrzehnte hinweg eine linke Kritik. Es war der Tonfall, den Adorno in seinen musikalischen Schriften angeschlagen hatte, der die Art, wie man über Musik redete, nachhaltig prägte. Adorno hatte vor allem gelehrt, Musik als fasslichen Entwurf einer künstlerisch-gesellschaftlichen Utopie zu begreifen. Erst als die Bedeutung Adornos im Laufe der Jahre verblasste, begann man der Musik wieder einen affirmativen Zug einzuschreiben.

Und nun also sehnt das deutsche Musikleben – die Tonträgerindustrie, der biedere CD-Käufer und der versnobte Festspielbesucher genauso wie Teile des Feuilletons – nun also sehnt sich das deutsche Musikleben nach einem Dirigenten, der wieder ein Furtwängler oder ein Karajan werden könnte. Neu ist nicht das großspurige Raunen, mit dem man Thielemann begegnet. Neu ist der Versuch, einen Musiker systematisch auf diese Rolle festzulegen.

Christian Thielemann erfüllt wesentliche Voraussetzungen: Er ist deutsch und konservativ. Er ist jung genug, um sich noch in eine Rezeptionserwartung einzuleben. Und er verfügt über genügend Eigensinn, sodass sich Züge genialischen Gebarens in seine Interpretationen hineindeuten lassen. Seine Biederkeit und seinen plumpen Vorwitz darf man ihm als zeitgemäße Charaktereigenschaften nachsehen. Und man ist mit Thielemann ja auch noch lange nicht fertig. Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung, der sich so für seine „Meistersinger“ begeisterte, musste den Zögling dann doch großväterlich tadeln, denn „da schlug, wie beim jungen Siegfried, auch bei Jung-Christian der Mut manchmal um in gelegentlichen Übermut“.