Die gestörte Nachtruhe der Nation

Eine Anthologie und eine Ausgabe der „Neuen Rundschau“ sind den Themen Schlaf und Schlaflosigkeit gewidmet

Der Schlaf und sein negatives Pendant, der unerträgliche Wachzustand, rücken immer dann ins Blickfeld des allgemeinen Interesses, wenn die gesellschaftliche Befindlichkeit zwischen den Extremen der Hyperaktivität und der Erschöpfung pendelt. Diesen Zustand scheinen wir erreicht zu haben, worauf der Kollaps des Neuen Marktes ebenso hindeutet wie das erste Atemholen der Berliner Republik und der Generation Berlin.

Über den Schlaf und seine Schwester, die Schlaflosigkeit, sind in der vergangenen Zeit mehrere Romane erschienen, und dem Zeitgeist entsprechend beschäftigt sich das letzte Heft der Neuen Rundschau mit dem Schlaf respektive seiner Abwesenheit. László F. Földényi schreibt über den Schlaf als nächtliches Wunder und liest dabei Goyas Radierung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ auf neue und überraschende Art. Joachim Kalka entwirft eine Poetik des Halbschlafs, und Dorothea Dieckmann befasst sich mit dem geraubten Schlaf bei Tschechow, und insgesamt sind alle Beiträge zum Thema nicht so sehr als Beschreibung privater Idiosynkrasien zu lesen, sondern als Analyse unterschiedlicher Aspekte unserer gegenwärtigen Gesamtverfassung.

Auch Manfred Koch und Angelika Overath sind in dem Heft vertreten, die über den geraubten Schlaf eine Anthologie zusammengestellt haben, aus der wir erfahren, was alles uns den Schlaf nehmen kann: die Liebe natürlich, aber auch der Nachbar oder gar der Partner; die Furcht vor Schlafes Bruder ebenso wie „die intensive Müdigkeit des Geistes und die perverse Wachheit des Nervensystems“ (Fitzgerald). Eine Abteilung befasst sich mit den Mitteln und Listen, zu denen derjenige greift – meist vergeblich –, den der Schlaf flieht. Dem unerträglichen Wachzustand kommt man schon lange nicht mehr mit Schäfchenzählen bei, und um ein medizinisches Problem handelt es sich primär auch nicht. Man muss gewiss nicht auf Heines „Denk ich an Deutschland …“ Rekurs nehmen, um nach Lektüre der Anthologie und der Neuen Rundschau zu begreifen, woher unsere permanente Erregung rührt, die mit so viel Erschöpfung durchsetzt ist. Zu hoffen bleibt, dass Christoph Meckels erste zwei Zeilen seines Gedichts „Schlaflos“ nicht kollektive Wirklichkeit werden: „Da der Sandmann seinen Sack verlor / werde ich dieses Jahrtausend schlaflos sein …“ JOCHEN SCHIMMANG

„Neue Rundschau“, Heft 3/2002: „Über den Schlaf“. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2002, 9 €ĽManfred Koch, Angelika Overath (Hg.): „Schlaflos: das Buch der hellen Nächte“. Libelle, Lengwil 2002, 316 S., 24 €