Moralisch und ästhetisch gerüstet

Mit Uraufführungen von Henning Mankell und Beat Furrer startet Graz in sein Jahr als „Europäische Kulturhauptstadt“

Graz fliegt? Graz fliegt! Aber wohin fliegt die österreichische Stadt, die sich in diesem Jahr mit dem Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ schmücken darf und an diesem Wochenende mit großem Wirbel den opulent ausgestatteten Reigen der Veranstaltungen begonnen hat? Die Eröffnung fand im Grazer Opernhaus statt, und damit schmückten sich auch die Politiker, die Anwesenheit zeigten und sich kulturfreundlich gaben.

Das ist nicht unbedingt repräsentativ für ein Land, in dem vor kurzem ein Wahlkampf tobte, in dem Kultur keinen Nebensatz wert war. Und unvermutet stellte sich ein Hauch von Monarchie ein. Der Saal war voll ausgelastet, die Feier konnte beginnen – und dann durchmaß im letzten Augenblick der Bundespräsident Thomas Klestil mit den Seinen unter Applaus den Raum. Die Bundeshymne wurde abgespielt, jeder erhob sich von seinem Sitz, als hätte eine staatstragende Stunde geschlagen. Aber dann trat doch noch das Ensemble Theater im Bahnhof in Erscheinung, das in kurzen ironischen Szenen die allzu hehre Stimmung gnädig entweihte.

Die EU-Kommissarin für Bildung und Kultur, Viviane Reding, brachte, Jacques Delors zitierend, Enthusiasmus für Kultur auf: „Niemand verliebt sich in einen gemeinsamen Binnenmarkt!“ Sie redete von der „Seele Europas“ im gemeinsamen Kulturraum und der Vielzahl der Wurzeln, die ihn erst ausmachen. Damit brachte sie das Grazer Projekt auf den Punkt, das der Unterschiedlichkeit der Kulturen gerecht zu werden sucht. Künstler aus St. Petersburg, Architektur aus Slowenien, Theater aus Italien, Slowenien und Ungarn, Jazz aus Südosteuropa, das sind einige Projekte, die darauf aufmerksam machen, dass jenseits der Grenzen Kultur entsteht, die uns unmittelbar angeht.

Zwei groß angekündigte Uraufführungen schufen zu Beginn jene Aufmerksamkeit, die einer Kulturhauptstadt gut ansteht. Keine Fragen bleiben offen! Henning Mankell, der sich als Kriminalschriftsteller einen guten Namen gemacht hat, schrieb und inszenierte für Graz das Stück „Butterfly Blues“. Neben Schauspielern aus Graz hat er dafür drei Frauen vom Teatro Avenida in Maputo, Mosambik, eingesetzt. Das ist sinnvoll, weil er mit seinem Stück den Beweis antreten möchte, dass die Europäer mit afrikanischen Flüchtlingen menschenunwürdig verfahren.

Er hat alle moralischen Argumente auf seiner Seite, die literarischen leider aber nicht. Es ist ein arg vorhersehbares Stück geworden, dem man von weitem ansieht, dass es von einem guten Menschen für gute Menschen erdacht worden ist. So hat Mankell immer Recht. Schon als am Anfang eine junge Schwarze auftrat und mit Kraft eine Trommel bearbeitete, war zu befürchten, dass alles, was wir von Afrika und seinen Bewohnern ahnen, Theaterwirklichkeit würde. Keine Fragen bleiben offen, weil sich Henning Mankell, der alles weiß, keine mehr stellt.

Alle Fragen bleiben offen! Mit der szenischen Uraufführung von Beat Furrers Musiktheater „Begehren“ – die konzertante Uraufführung fand schon im Jahr 2001 im Rahmen des „steirischen herbstes“ statt – war die Bekanntschaft mit einem Ereignis von ganz anderem Format zu machen. Die Welt ist kahl, hart und von schneidend aggressivem Weiß. Orpheus (Johann Leutgeb) bewegt sich in dieser Welt, und er scheitert. Das Stück zeichnet den Weg eines Menschen in die Verlorenheit und die letzte Einsamkeit, den Tod, nach. Orpheus fällt unter Gestalten, denen in ihrer gedämpften Unauffälligkeit jeder Anflug von Identität versagt wird. Orpheus sticht heraus aus dieser Niemands-Gruppe, und er darf sich auch noch musikalisch Geltung verschaffen. Er ist der unglückselige Held, der bei Strafe der Vernichtung den Weg in die Unterwelt antritt, aber ein Individuum wird er nicht. Bei Furrer findet die Entleibung klassischer Figuren statt. Nicht das Drama eines Menschen wird verhandelt, sondern das Seelendrama aller Menschen.

Reinhild Hoffmann hat mit einem für dieses Projekt zusammengestellten Tanzensemble eine komplizierte Choreografie erarbeitet, die die Wesen der Unterwelt zu einem Kollektiv zusammenschweißt, das nach einem ihnen auferlegten Plan handelt. Orpheus wirkt in seiner Gegenbewegung als Fremdkörper. Zaha Hadid, der helle Stern der zeitgenössischen Architektenwelt, legte eine insofern sehr unfreundliche Fläche in den Raum, als sich bei Bedarf aus ihr schnittige, metallene Segmente in die Höhe schieben und krümmen. Der Mensch, der in diese Welt fällt, ist ganz auf sich gestellt, die Innenwelt wird sein eigentlicher Ereignisraum. Alle Fragen bleiben offen, weil, wenn sich jemand wie Beat Furrer an die letzten Fragen wagt, schlüssige Antworten sowieso ausbleiben.

ANTON THUSWALDNER