Der Baby-Boom auf dem Szene-Berg

Wohin man schaut, Kinderwagen und Buggys. In Prenzlauer Berg sind die Geburten seit Ende der Neunzigerjahre um ein Viertel gestiegen, mehr als im Rest Berlins. Schon haben die Eltern 15 Kitas gegründet. Die Zahl soll sich dieses Jahr verdoppeln

von ANNE HAEMING

„Oh kommet doch all!“, muss in Prenzlauer Berg niemand mehr rufen. Sie sind schon da, die lieben Kinderlein. Wo vor gut sechs Jahren noch das Schicksal eines Stadtteils ohne Nachwuchs unheilvoll über den Dächern dräute, schallt jetzt heiteres Kinderlachen durch die Gassen. Jedem aufmerksamen Flaneur ist die Veränderung bewusst. Kinderwägen, Buggys und Dreiräder blockieren Bürgersteige und Hausflure; hier öffnet eine Spielehandlung, ein paar Blöcke weiter ein Laden mit Babyklamotten. Der Kindersegen brummt.

In der Statistik des Jahres 2002 für Prenzlauer Berg quillt die Spalte mit Kids unter drei Jahren fast über. 3.554 Kleinkinder sind dort aufgeführt, knapp ein Viertel mehr als vor vier Jahren. Der statistische Ausreißer wird umso deutlicher im Vergleich mit Stadtteilen wie Kreuzberg oder Wedding – dort gibt’s im Vergleich zu 1998 sogar weniger Nachwuchs.

Die knapp 25 Prozent mehr zwischen Schönhauser Allee und Zentralviehhof lassen nicht nur Kiezbetriebe mit einschlägigen Produkten den Boom spüren. Die Nachfrage setzt an einer viel empfindlicheren Stelle der Infrastruktur an: den Kindertagesstätten. Die Wartelisten sind proppevoll, bei kommunalen Einrichtungen genauso wie bei privaten. 150 Anmeldungen auf 20 Plätze seien in Prenzlauer Berg an der Tagesordnung, meint Roland Kern vom Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden (Daks). Die Frustration sei bei vielen Eltern so groß, dass sie kurzentschlossen selbst eine Kita gründen. „In den letzten beiden Jahren gab es einen richtigen Boom“, erzählt Kern. „Von den 15, die es momentan gibt, sind in der Zeit sieben dazugekommen.“ Und die Steigerung um fast 100 Prozent wird sich aller Voraussicht in diesem Jahr wiederholen. Nach Kerns Prognose werden allein in Prenzlauer Berg bis zu 15 neue Elterninitiativ-Kitas (EKT) enstehen – falls die Finanzierungsbewilligung des Senats kommt. Zum Vergleich: In Friedrichshain sind nur drei neue EKTs geplant, in Pankow fünf.

Eine Neugründung ist die Kita Billabong – im Frühjahr geht es los. Räume, Erzieher und natürlich auch eine Warteliste sind schon vorhanden. Vor einem knappen Jahr begannen Silke Gänger und ihr Lebensgefährte Sebastian Leonhard ihre Tour durch den Bezirk, auf der Suche nach einem Platz für Tochter Luka. In den staatlichen Kitas schreckte sie das Missverhältnis ab – viel zu wenige und zu alte Erzieher für zu viele Kinder. Die liebevolleren privaten Kitas hatten nur endlose Wartelisten zu bieten. Irgendwann hörten sie vom Daks, im Bekanntenkreis fanden sich andere frustrierte Eltern, die Entscheidung war gefallen. „Es ist gar nicht so schwer, selber eine Kita zu gründen“, meint Gänger. „Dass sich Eltern für ihr Kind verantwortlich fühlen und sich selbst organisieren, finde ich sehr sinnvoll.“

Eine Einstellung, die typisch ist für die Klientel des Bezirks. Twentysomethings, Studenten und Co. hatten Mitte der 90er-Jahre schnell die Lücken gestopft, die Familien auf der Suche nach mehr Grün und Ruhe in den Altbauvierteln hinterlassen hatten. Prenzelberg wurde zum In-Bezirk – und kam nach und nach auch bei Leuten aus der New Economy schwer in Mode, meint Leonhard: „In den letzten drei Jahren sind viele hergezogen, die Geld haben, nicht nur Studenten.“ Auch die seien nun im Alter, Familien zu gründen. „Es hat sehr viel mit dem Lebenskonzept der jungen Leute zu tun, die da wohnen. Aus Studenten wurden Eltern“, meint auch Roland Kern vom Daks. „In Friedrichshain sind sie noch nicht so weit, vielleicht in zwei Jahren.“

Der Daks hat auch die Gründer der Kita „Obst und Gemüse“ beraten. Die ist erst sechs Monate alt, aber die Nachfragewelle hat sie längst voll erwischt. „Wir führen schon gar keine Warteliste mehr. Täglich klingeln bei uns Leute, die einen Platz für ihr Kind suchen“, erzählt Mitgründerin Frauke Schelling. Besonders für die unter Dreijährigen seien die Plätze sehr knapp. Dass ihr Kiez einen regelrechten Kinderboom erlebt, vermutet Schelling schon länger: „Ich beobachte das jetzt seit fünf Jahren, die Spielplätze werden immer voller.“

Spielplätze genauso wie Schulhöfe, Grünflächen und verkehrsberuhigte Zonen gehören zu einem familienfreundlichen Umfeld. Das zu schaffen, hat sich S.T.E.R.N. auf die Fahnen geschrieben. Als vor fünf Jahren immer mehr Familien aus Prenzlauer Berg wegzogen, suchte der Sanierungsträger im Auftrag des Landes nach Gründen. „Ein wesentliches Argument waren Mängel im Wohnumfeld“, erklärt Birgit Wend, Stadtplanerin und Architektin bei S.T.E.R.N. Der Sanierungsträger realisierte in den letzten drei Jahren 20 Projekte. Das Ergebnis: „Die Tendenz konnte umgekehrt werden.“ Einen Kinderboom will sie zwar nicht erkennen. Ein Erfolgsbeispiel sei aber der Park „Marie“ an der Marienburger Straße: Seit er existiere, seien verstärkt Familien in die Gegend gezogen, Anreiz sei die 5.000 Quadratmeter große Fläche mit Abenteuerspielplatz und grüner Wiese. „Da gibt es einen direkten Zusammenhang“, betont Wend.

Doch bis in die Bezirksämter scheint die die Realität in den Kiezen noch nicht vorgedrungen. Es gibt zwar zahlreiche Bedarfsanalysen. Doch kommunale Kitas werden nicht gegründet und Grundschulen gar geschlossen oder zusammengelegt, in Prenzlauer Berg wie in den Altbauvierteln von Mitte. Denn mit der Wende 1990 sank die Geburtenrate in allen Ostbezirken dramatisch. Aber was ist mit den geburtenstärkeren Jahrgängen? Der Schulentwicklungsplan sei sehr präzise und langfristig ausgelegt, betont die Pankower Jugendstadträtin Christine Keil (PDS). Auch Jürgen Willuhn, Schulamtsleiter Mitte, prognostiziert, dass bis 2011 noch 27 Grundschulzüge zu viel seien.

Die Eltern sehen das anders. „Ich habe mal gehört, dass Prenzlauer Berg die größte Kinderdichte haben soll, bundesweit“, erzählt Kita-Gründerin Gänger. „Das habe ich sofort geglaubt.“