Eine Art Turbofeudalismus

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Wie verteidigt man eine Zivilisation?Nur so, wie man sie erkämpft hat

Neulich, abends, auf dem Postamt, fiel mir Fräulein Grube wieder ein. „Jeder Mensch kann singen“, sagte die immer. Und deshalb konnte ihre dritte Grundschulklasse vierstimmige Choräle singen. Bis auf drei Jungens. Die brummten immer nur denselben Ton. Nichts zu machen. Nur ein Ton. Unmusikalisch fürs Leben?

Nein, denn es war in den frühen Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Deshalb wurden die drei in die „Brummstunde“ geschickt, zu Herrn Hennig. Der leitete den Knabenchor Hannover und widmete sich im Nebenberuf der Verbesserung der Stimmbandbeherrschung bei denen, die von Natur und Elternhaus her musikalisch benachteiligt waren. Nach einigen dutzend Brummstunden wurden sie zu tauglichen, wenngleich immer noch stützungsbedürftigen Mitsängern. Und Weihnachten durften sie in der Apostelkirche mitsingen: „Gloria in Excelsis Deo“. Die drei Brummer waren in ihren menschlichen Möglichkeiten gewachsen, denn der Staat in Gestalt von Fräulein Grube fühlte sich sogar für ihre Musikalitätsreserven verantwortlich. Und der Staat bezahlte das. Und organisierte es.

Wie gesagt, Fräulein Grube fiel mir ein, als ich neulich um neun Uhr abends in der Post am Bahnhof Zoo stand mit einem Brief, der am nächsten Tag in Hamburg sein musste. „Heute geht der aber nicht mehr ab“, sagte die junge Frau, die hinter dem Schalter stand, „und wenn Sie ganz sicher sein wollen, dass er übermorgen ankommt, müssen Sie ihn für acht Euro schicken.“ Noch in den Siebzigerjahren, stammelte ich, konnte man die Briefe bis eine halbe Stunde vor Mitternacht abgeben, und sie waren, zum Normaltarif, am nächsten Tag in Hamburg. Die junge Frau zuckte die Schultern.

Bin ich der Einzige, den in solchen Momenten unkontrollierte Wutanfälle packen? Habe nur ich Verlustgefühle, wenn ich auf dem Kurfürstendamm Paare oder Passanten kucken will und dafür jedesmal einen Latte Macchiato kaufen muss, weil alle Bänke, zum Nachteil der Nichtsnutze und zum Nutzen der Investoren, entfernt wurden? Vermisse nur ich die gelben Telefonzellen, in denen man, gegen Wind und Mithörer geschützt, telefonieren konnte, zum Ortstarif eine Stunde? Leide nur ich ästhetisch, wenn an der Fassade der Universität tennisplatzgroße Blondinen für irgendein Gucci-Wässerchen werben, während die Stadt das Wasser für den Brunnen vor dem Rathaus nicht mehr bezahlen kann?

Das Land ist voller Menschen, die über all das klagen, von Kiel bis Konstanz. Wir lesen: 2.000 unbesetzte Ärztestellen in den Krankenhäusern, 21 Millionen Euro, die an den Kindergärten in Berlin gespart werden, 26.000 fehlende Betreuungsplätze in Frankfurt, 2,5 Milliarden Steuerverluste der deutschen Kommunen 2002. Wir registrieren Verluste, und wir brummen missgelaunt in Wartezimmern, Schulen und ICE-Bistros. Von den großen Rückzügen des Staates habe ich noch gar nicht geredet. Von der Privatisierung der Existenzrisiken, vom Verkauf hunderttausender kommunaler, also preisgünstiger Wohnungen, von den Überlegungen, dass die vierköpfige Familie demnächst 1.800 Euro zusätzlich für Gesundheit hinlegen soll …

Warum wehrt sich hier niemand? Vielleicht ja deshalb, weil wir innerlich, unter dem Druck der neoliberalen Religion, den Sozialstaat schon längst aufgegeben haben und nicht mehr als eine – kostbare und unwahrscheinliche – Kulturleistung wertschätzen? Der öffentliche Reichtum an kommunalen und nationalen Einrichtungen und die, im Grundbereich, egalitäre Verteilung der Lebensrisiken Krankheit und Alter – das waren ja allesamt keine „Wohltaten“, kein Konjunkturzuschlag und kein Schutzgeld, damit die Armen den Reichen nicht die Kehle durchschneiden, sondern die Realisierung des durchaus bürgerlichen Gedankens, dass die Nation eine Arbeitsgemeinschaft ist, dass der öffentliche Reichtum für alle die Macht der Wenigen balanciert. So stieg ein Jahrhundert lang mit dem privaten auch der öffentliche Wohlstand – bis hin zur Musikerziehung. Aber im Zeitalter der Globalisierung kann sich die Nation das nicht mehr leisten. So hören wir es aus allen Parteien und Talkshows.

Stimmt: Die Internationalisierung stärkt das Kapital; das Finanzkapital sucht rastlos nach Anlagemöglichkeiten, und eine der rentabelsten ist die Privatisierung des öffentlichen Reichtums. Der Steuersenkungswettbewerb zerstört die Basis der Bürgerfreiheit: die Steuersouveränität. Am Ende dieses ultraliberalen Laisser-faire bleibt dann ein Rumpf- und Ordnungsstaat, der nur noch fürs Lesenlernen, für die Armenpflege und für die öffentliche Ordnung zuständig wäre – eine Art Turbofeudalismus würde den egalitären Sozialstaat ersetzen, den nicht nur Pierre Bourdieu neulich noch für so wesentlich für die europäische Kultur und Identität gehalten hatte wie Kant, Beethoven und Mozart. Gegen diese politisch moderierte öffentliche Verarmung hülfe nur noch eine politische Polarisierung, und die heißt: Der Sozialstaat (und das heißt: die europäische Demokratie) ist nur zu bewahren im Kampf gegen die Globalisierung des Kapitals.

Natürlich klingen solche Sätze inzwischen genauso hohl wie des Rechtspopulisten Baring Barrikadenlyrik zum weiteren Abbau des Staates und zur Verteidigung der Privilegien all derer, die noch nicht aus der alten Ordnung gefallen sind. Aber in einem hat der populistische Professor Recht: im leidenschaftsgestützten Appell zur „großen Umkehr“. Wenn die Mobilität von Kapital und Geldvermögen nur noch die Belastung der Globalisierungsopfer erlaubt, dann müssen, in Europa, neue Formen der Besteuerung gefunden werden. Wenn die WTO-Verträge die weitere Privatisierung der sozialstaatlichen Einrichtungen vorsehen, dann müssen sie revidiert werden. Wenn die Wertschöpfung an Kapital und Patentbesitz übergegangen ist, dann muss ihr Anteil an der Finanzierung des öffentlichen Reichtums wieder wachsen.

Der Steuersenkungswettbewerb zerstört die Basis der Bürgerfreiheit: die Steuersouveränität

Wie verteidigt man eine Zivilisation? Nur so, wie man sie erkämpft hat. Am Anfang dieser Epoche stand der Kampf produktiver Bürger und verarmter Kommunen um die Steuersouveränität. Im Jeu de Paume erkämpften sie mit ihrem Sitzstreik die Finanzhoheit im Lande. Fünfzig Jahre Kritik hatten nichts genützt, also besetzten sie den Staat mit ihren Körpern. Und heute? Ich schlage lustvolle kleine Anfänge vor, etwa eine freiwillige Steuerwehr, die vor der Deutschen Bank vorfährt, wenn eine ungerechte Steuersenkung ihr Milliardengewinne schenkt, oder die Zufahrtsstraßen nach Liechtenstein blockiert, bis das illegal dorthin verbrachte Geld wieder zurückkommt – ohne Reichenrabatt. Nachts fantasiere ich von gewaltigen Piss-ins, dort, wo die öffentlichen Örtchen kommerzialisiert wurden, und träume von Mittelschichteltern, die mit ihren privat bezahlten Nachhilfe- und Musiklehrern die Schulen besetzen und den Verhältnissen ihre Melodie vorspielen. Im Gedenken an Fräulein Grube.

Aber einstweilen brummen wir noch. Dabei ist Demokratie wirklich so etwas wie Musik: genussreich, schwer zu machen, schnell verweht.