MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON GERRIT BARTELS
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Österreich,1938

John Wray: „Die rechte Hand des Schlafes“. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002, 382 S., 22 €

In Zeiten, in denen viele Debütanten glauben, mit exotischen Klappentextbiografien glänzen zu müssen, liest sich die von John Wray reichlich unspektakulär: 1971 als Sohn eines Amerikaners und einer Österreicherin in Washington, DC, geboren, verbringt Wray seine Kindheit in Österreich, kehrt in die Staaten zurück, geht in New York aufs College und schreibt hier in einem ungemütlichen Kellerloch zwei Jahre seinen Debütroman „Die rechte Hand des Schlafes“. Außergewöhnlich aber ist, gerade für einen Debütanten: Nicht Wrays naturgemäß beschränkte Lebenserfahrungen stehen im Mittelpunkt dieses Buches, sondern die Stimmung und die Ereignisse in einem kleinen österreichischen Ort zu Zeiten des Nationalsozialismus.

Held des Romans ist Oskar Voxlauer, der 1917 als Jüngling in den Ersten Weltkrieg zieht und erst 1938 nach einer Odyssee durch Osteuropa zurückkehrt. Hier, in seinem jetzt braun bewegten Heimatort, versucht Voxlauer ein zurückgezogenes Dasein als Wildhüter zu führen – was ihm nicht gelingt. In Rückblenden erfährt man, was Voxlauer während seiner langen Abwesenheit widerfahren ist: seine traumatischen Erlebnisse an der Front, die nachfolgende Desertion, dann Irrfahrten durch das zerfallende Habsburger Reich, die ihn schließlich in die Ukraine führen, wo er die Liebe, den Leninismus und den Stalinismus kennen lernt.

Viel Stoff also, den Wray aber übersichtlich zu gestalten weiß. Er erzählt stringent und glänzt insbesondere mit schönen, unangestrengten Naturbeschreibungen. Der Zauber der Natur hier und das Aufkommen der Nazis dort, Poesie und Alltagsrealismus – diese Gratwanderungen gelingen Wray gut, nicht zuletzt durch mehrmalige Perspektivwechsel: Im letzten Drittel des Romans wird Voxlauers Nazigegenspieler Kurt Bauer zum Icherzähler, der ebenfalls per Rückblende seine Teilnahme an der Dollfuß-Ermordung und einen Besuch bei Himmler schildert.

Nicht ganz gelungen ist Wray die anschauliche Darstellung der unterschiedlichen Hintergründe und Motive vieler seiner Figuren. Die an die großen amerikanischen Shortstory-Erzähler wie Hemingway oder Carver angelehnten Dialoge wirken oft wie bloße Stilübungen, die im Ungesagten nicht eine Menge mitschwingen lassen, sondern tatsächlich nichts. Man braucht Geduld, um den zahlreichen Ambivalenzen von Wrays Personal auf den Grund zu kommen, vieles verbleibt im Ungefähren. Erst mit dem letzten Satz lichtet sich dann so mancher Nebel. In diesem heißt es über Voxlauer und seine Freundin Else Bauer: „Sie wussten, dass der Krieg näher kam, aber es war ihnen gleichgültig.“

Hartford, 1944

Stewart O’Nan: „Der Zirkusbrand“. Deutsch von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 502 S., 24,90 €

Auch Stewart O’Nan hat sich nach seinem schönen, im Wisconsin des 19. Jahrhunderts angesiedelten Schauerroman „Das Glück der Anderen“ einmal mehr eines historischen Ereignisses angenommen: eines Zirkusbrandes am 6. Juli 1944 in seiner Heimatstadt Hartford, dem 167 Menschen zum Opfer fielen. O’Nan diente diese Katastrophe nun nicht als Vorlage für einen Roman. Er ist in die Rolle eines hart recherchierenden Journalisten geschlüpft, hat Archive eingesehen, Interviews mit Überlebenden geführt und sein Material schließlich in der fettleibigen Dokumentation „Der Zirkusbrand. Eine wahre Geschichte“ gebündelt. „Ich hatte die Befürchtung“, so O’Nan im Vorwort, „dass ich der Bedeutung des Brandes nicht gerecht werden könnte, wenn ich einen Roman darüber schriebe.“ Anfangs noch unsicher, merkte er beim Schreiben, „dass die Wahrheit oft seltsamer ist als jeder Roman, […] auch voller Zufälle, Lücken und Fehler, die ein guter Roman nicht dulden kann.“

Nur ist leider diese seltsame und lückenreiche Wahrheit alles andere als aufregend und schon gar nicht so schön zu lesen wie ein „echter“, durchkomponierter O’Nan-Roman. O’Nan berichtet getreulich über das Zirkuswesen in den USA der Vierziger, über Zirkusunglücke vor dem Hartforder Brand und natürlich ausführlich über den Brand selbst, die anschließende Suche nach den Schuldigen und die Probleme bei der Identifizierung der Opfer, die sich im Fall der „Miss 1565“ bis in die Gegenwart hinzogen. Obwohl er sich auf einige Hauptpersonen unter den Opfern konzentriert und diese sparsam porträtiert, verliert man schnell den Überblick: hier noch ein Verkäufer, der etwas beobachtet haben will, dort die Schicksale vieler namenloser Menschen, hier die Osttribüne, dort das Hauptdach des Zeltes. Gerade in den detaillierten Beschreibungen der Brandverletzungen, der Fluchten vor dem Feuer und der Identifizierung der Toten suhlt O’Nan sich förmlich. Je mehr Schreckensmeldungen es aber gibt, umso mehr verliert der Schrecken sein Gesicht, umso weniger wird das Leid Einzelner erfahrbar – das Unglück der anderen verliert sich in der Vielzahl der Fakten. „Der Zirkusbrand“ ist eine Fleißarbeit, ein Dokument, das diese Katastrophe, anders als viele andere, vor dem Vergessen bewahrt – doch wie sehr das Leben tausender Menschen durch den Brand verändert worden ist, vermittelt dieses Buch nicht.

Paris, 1997

Frédéric Beigbeder: „Die Liebe währt drei Jahre“. Deutsch von Brigitte Große. Rowohlt Paperback, 155 S., 10 €

Es ist anzunehmen, dass dem französischen Schriftsteller Frédéric Beigbeder nichts ferner liegt, als einen historischen Stoff zu bearbeiten. Nachdem er mit „39,90“ letztgültige Innenansichten aus dem Werbermilieu geliefert und einen Bestseller gelandet hatte, veröffentlicht sein deutscher Verlag seit einiger Zeit die frühen Beigbeder-Romane. Diese lesen sich heute, da allerorts der existenzielle Ernst regiert, als würden sie aus einer sehr fernen Zeit stammen, in der es um nichts anderes ging als den allergrößten Spaß: Partys, Drogen, Sex – Neunzigerjahre.

Nach den „Memoiren eines Sohnes aus schlechtem Hause“ und „Ferien im Koma“ signalisiert der jüngste, 1997 entstandene dritte Band der Marc-Marronnier-Trilogie, „Die Liebe währt nur drei Jahre“, dass der Spaß vielleicht doch mal ein Ende hat: Marc Marronnier, Alter Ego sowie Ich- und Du-Erzähler Beigbeders, ist von seiner Frau verlassen worden, steckt in einer anderen, schwierigen Liebesgeschichte und sinniert nun in 53 kurzen Kapiteln über die Unmöglichkeit einer länger als drei Jahre dauernden Liebe. Allerdings scheint ihm sein Unglück nicht wirklich nahe zu gehen, von einer tief schürfenden, gar poetischen Abhandlung über die Liebe ist er weit entfernt. Vielmehr flüchtet er sich in Bonmots: „Ehe ist wie Kaviar zu jeder Mahlzeit: Bis zum Erbrechen wird man voll gestopft mit etwas, das man liebt.“ Oder: „Die Liebe ist das einzige vorhersehbare Unglück, von dem man nicht genug kriegen kann.“ Mit solchen Sprüchlein hat man auf jeder Party die Lacher auf seiner Seite: Beigbeders Welt ist alles, was ein flotter Werbespruch ist. Und die Literatur nicht mehr als eine schöne, postmoderne Spielwiese. Der Mythos von Sisyphos? Kein Problem, wird verballhornt. Zu wenig Action in dem Buch? Inszeniert Marronnier eben eine Restaurantschlägerei. Ein Entwicklungsroman? Klar: Aus jedem Marc Marronnier kann ein Frédéric Beigbeder werden. So amüsiert man sich zwar, hat aber auch starke Zweifel an dem, was Beigbeder einst in einem taz-Interview äußerte: „Ich glaube, mit Worten kann man die Menschen eher berühren und zum Nachdenken bringen als mit Bildern.“

Amerika, zeitlos

Richard Ford: „Eine Vielzahl von Sünden“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Berlin Verlag, Berlin 2002, 380 S., 19,90 €

An keine Zeit der Welt gebunden ist das Thema, mit dem sich Richard Ford in „Eine Vielzahl von Sünden“ beschäftigt: der Ehebruch. In zwölf Geschichten lässt er keine Konstellation aus und fühlt sich ein in die Welt der Betrüger, Betrogenen und anderer Leidtragender: die Frau, die mit ihrem Mann eine perfekte Ehe führt, dann von ihm betrogen wird und nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Nachsicht walten lassen? Ihn verlassen? Der Mann, dem seine Frau auf dem Weg zu einer Abendeinladung eröffnet, eine Affäre mit dem Gastgeber gehabt zu haben. Der Junge, dessen Eltern sich getrennt haben und der mit dem ihm fremd gewordenen Vater auf Entenjagd geht. Der verheiratete Mann und die verheiratete Frau, die sich bei einem Bankett ihrer Maklerfirma lieben lernen, dann aber auf einer Grand-Canyon-Sightseeing-Tour feststellen, dass sie sich ziemlich auf die Nerven gehen.

Auffallend ist, wie einfältig und zugleich klug reflektierend Fords Figuren sind. Wie sie sich treiben lassen, in stillen Momenten aber innehalten und zu philosophieren beginnen: über „die Dinge, die uns alle bedrohen“; über die Zeit, in der so vieles passiert, „und wir nur einen lachhaft unbedeutenden Bruchteil davon erfahren“; oder über das Leben, „das im besten Fall eine kleine, kaum wahrnehmbare Einheit darstellt“, die so leicht zu zerstören ist. Sie wissen immer etwas weniger, als sie gerade fomulieren, sie ahnen, dass es noch so viel mehr gibt auf der Welt als ihre kleinen Leben. Das aber können sie sich nicht unentwegt ins Bewusstsein rufen, weshalb auch manche Geschichte nur wenig Dynamik entfalten will – selbst Ehebrüche haben etwas Profanes. Trotzdem vermag Ford mit einem einzigen seiner typischen Richard-Ford-Sätze jeder dieser Geschichten eine wenn auch noch so zarte Aura zu verleihen. Wie nebenbei zeichnet er in ihnen auch ein Bild des heutigen Amerikas: die Trostlosigkeit der Suburbs, der Shopping Malls, der Formathotels an den Ausfallstraßen, ja, selbst solch grandioser, aber von Touristen abgelaufener Naturlandschaften wie dem Grand Canyon. Und mittendrin Angehörige der weißen Mittelschicht, die nicht um ihre Existenz kämpfen müssen und trotzdem nicht in der Lage sind, glücklich zu werden.

Berlin, 2001

Wolfgang Herrndorf: „In Plüschgewittern“. Haffmans bei Zweitausendeins, Frankfurt 2002, 222 S., 16,90 €

Dieser junge Mann ist kein einfacher Charakter. Er interessiere sich für nichts, meint seine Freundin, und als sie ihn deswegen verlässt, sagt er nur: „Dann ist ja alles in Ordnung“; er hasst das bürgerliche Leben seines Bruders und dessen Frau, besonders ihre Weltoffenheit und „absurde Toleranz“; und er beschreibt, damit es mal knallt, seine Schwägerin als eine Frau, „die früher an der Uni mehr Verehrer gehabt hatte, als der Russlandfeldzug Tote hinterließ“.

Man ist ihm schon oft begegnet, diesem jungen Mann und namenlosen Icherzähler aus Wolfgang Herrndorfs Debütroman „In Plüschgewittern“: in den Büchern von Benjamin Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Marc Fischer. Herrndorfs Held ist zwar kein überspannter Dandy, doch weiß auch er nichts anzufangen mit seiner wohlbehüteten Kindheit und Jugend in den Achtzigern und dem nachfolgenden unspektakulären Irgendwie-vor-sich-Hinleben. Wie schwer es ist, bloß mit sich selbst klarzukommen! Warum kann man nicht wenigstens einmal in die Haut eines anderen schlüpfen? Da bleiben nur gnadenloses Durchblickertum und hilfloser Zynismus: Diese Generation muss nur noch durch Plüschgewitter, nicht mehr durch Stahlgewitter!

Warum der arme Wicht dann ausgerechnet nach Berlin muss, erschließt sich allerdings nicht – schon gar nicht durch Herrndorfs deppen Hinweis im Presseinfo, mal einen Berlin-Roman schreiben zu wollen, „den ich auch selbst verstehe“. Nach einigen schönen Jugendgeschichten und einem Abstecher zum Bruder lässt er seinen Erzähler also in Berlin abstürzen. Partys, Keller-Clubs, das Kaffee Burger, „dialektische Möbelgeschäfte“ – ziellos geht es durch die Stadt, fixiert höchstens durch eine halbgare Liebesgeschichte. Berlin ist hier kein Fest fürs Leben, auch kein Ort für schwierige Charaktere oder eine Stadt, die Menschen verändert, sondern: Kulisse, aber wenigstens eine jenseits des Potsdamer Platzes. Konsequent immerhin ist Herrndorf – eine Rettung gibt es für seinen Helden nicht. Er stirbt. So geht es eben allen Jungs der jüngeren deutschen Literatur: viel Plüsch, kein Gloria, und dann das Ende. Für einen Eintrag in die Literaturgeschichtsbücher aber wird es wohl reichen.