„Das echte Filmbild ist ein Relief“

13 Schüler, 5 Altersstufen, ein Klassenraum: Der Dokumentarfilm „Sein und Haben“ befasst sich mit einer Zwergschule in der französischen Provinz. Ein Gespräch mit dem Regisseur Nicolas Philibert über Zelluloid und die Schönheit zweckfreien Wissens

Interview ANKE LEWEKE

taz: Herr Philibert, was war zuerst da: der Lehrer, die Schule, die Schüler oder die Landschaft?

Nicolas Philibert: Zu Beginn habe ich mir dieses Projekt als das Abenteuer einer Schule vorgestellt. Das Abenteuer einer kleinen Provinzschule, in der Schüler verschiedener Altersgruppen nebeneinander sitzen. Alles gehörte von Anfang an zusammen: ein Film im ländlichen Milieu mit Schülern und einem Lehrer oder einer Lehrerin. Ich dachte zuerst automatisch an eine Lehrerin, da es in diesem Beruf viel mehr Frauen als Männer gibt.

Haben Sie diesen Mikrokosmos erst einmal beobachtet, um sich dann eine filmische Form zu überlegen?

Nein, ich habe gleich am ersten Tag angefangen zu drehen. Aber davor gab es natürlich eine lange Vorbereitung. Ich habe etwa hundert Schulen besucht, bevor ich diese eine gefunden habe. Ich habe mit Lehrern und Kindern gesprochen, den Unterricht beobachtet und dabei natürlich eine Menge gelernt. Danach konnte ich dann einfach loslegen.

Die Kinder behandeln die Kamera ab einem bestimmten Moment wie einen zusätzlichen Klassenkameraden. War dieses Vertrauen von Anfang an da?

Dieses Vertrauen ist etwas sehr Fragiles. Man erhält es nicht ein für alle Mal. Es kann vom einen auf den anderen Moment verschwinden, wenn man sich ungeschickt verhält. Wir mussten es immer wieder erobern. Es gab natürlich eine Art Grundvertrauen, weil die Kinder schnell kapiert haben, dass ich nicht da war, um sie zu beurteilen oder zu überwachen. Sie haben mitbekommen, dass wir sie respektierten. Es gab zum Beispiel viele Situationen, die ich nicht gefilmt habe, weil ein Kind in diesem Moment unsicher, verschämt oder verschüchtert war. Ich habe nichts erzwungen. Die Kleinen sind ja Schauspieler ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Intimsphäre. Damit muss man verantwortungsbewusst umgehen.

Das Kino steht unter dem ästhetischen Einfluss der Dogma-Welle. Alle drehen mit kleinen Kameras. War es Ihnen wichtig, auf Zelluloid zu drehen, mit „richtigen Bildern“?

Es musste einfach Zelluloid sein. Mit dem Ausdruck „richtige Bilder“ liegen Sie genau richtig. Dogma ist für mich in erster Linie eine Werbeidee. Von denen, die das Dogma lanciert haben, wird es ja längst nicht mehr respektiert. Ich brauche das Zelluloid, denn das Zelluloid ist für mich Kino. Ich habe nichts gegen Video, aber für mich käme es nie in Frage, diese Technik zu benutzen. Nur auf Zelluloid gibt es die Tiefe der Einstellungen, die absolute Schärfe. Die Textur des Bildes ist eine ganz andere. Das echte Filmbild hat ein unvergleichliches Relief.

Auf diese Bilder können Sie sich ganz offensichtlich verlassen. Etwa indem Sie den Beobachtungen immer wieder eine Auszeit geben und die Landschaft filmen. Oder Schildkröten, die auf dem Boden des Klassenzimmers herumkrabbeln.

Ein Kind, das eine Fliege betrachtet: Was erzählt das? Eine Träumerei, ein Stimmungsbild, einen Blick. Solche Aufnahmen sind für mich genauso wichtig, wie die Kinder dabei zu filmen, wie sie schreiben lernen. Die Bilder der Natur erzählen sehr viel über die Urgewalt der Landschaft, in der diese kleine Schule steht. Die Natur ist feindlich, und dieses Schulzimmer ist eine kleine, beschützte, warme Welt, in der man unter sich ist. Ein Raum, in dem man lernt, in Gesellschaft zu leben. Darum geht es ja letztlich bei der Schule. Es ist der Ort, an dem man die sozialen Regeln erlernt, den Respekt vor dem Begehren des anderen. Um mit anderen zu leben, muss man auch an sich selbst arbeiten. Darum geht’s doch.

Die Landschaftsbilder und die Aufnahmen vom Inneren der Schule: Sind das für Sie Paralleluniversen?

Eigentlich nicht. Es geht ja um den gleichen Ort im gleichen Moment. Durch die Bilder der Landschaften erfährt man einiges über die Menschen. Wenn man sich dieses Klimas, dieser Kälte und dieser Schneemassen bewusst wird, wenn man diesen Winter betrachtet, der nie zu enden scheint, dann bekommt man eine Ahnung von den Menschen dieser Region. Ich habe absichtlich keine Bilder vom Dorf gemacht, denn es geht nicht um Soziologie. Alles erzählt sich durch die Landschaft. Auch wenn diese Schule am Arsch der Welt ist, wird sie durch die Aufnahmen der Landschaft zum Teil der Welt. Durch die beschlagenen Scheiben betrachtet man die Bäume und Jahreszeiten, und im Klassenzimmer entdeckt man, dass man auf einem großen Planeten lebt.

Wenn Sie einen der Schüler filmen, wie er einen Traktor fährt und den Stall ausmistet, dann hat man nicht unbedingt den Eindruck, er lernt in der Schule Dinge, die direkt mit seinem Leben verzahnt sind. Es gibt die Schönheit eines Wissens, das man nicht verwerten muss.

Wir alle haben in der Schule viel Zeugs gelernt, das uns nichts genützt hat oder dessen man sich nicht mehr bedient. Aber man lernt eben auch das Lernen. In der Schule gibt es das quantifizierbare Wissen, aber auch Dinge, die uns zu einer Neugierde, zur Freude am Wissen führen.

Das ist ein Statement: In einer Zeit, da Wissen nur einen Wert zu haben scheint, wenn es sich umsetzen und quantifizieren lässt, hat es etwas Beruhigendes, diese kleine Schule zu sehen, in der es noch um eine andere Art des Lernens geht.

Letztlich geht es ja auch bei meiner Arbeit genau darum. Ich will dem Zuschauer nichts beibringen, ihn nicht unterrichten, ihm nicht mit einem Off-Kommentar sagen, was er wissen soll. Es geht eher darum, ihm Begegnungen vorzuschlagen, Gefühle, vielleicht Reflexionen auszulösen. Man muss ihm Raum lassen. Zumindest bekommt er in diesem Film den Platz, um einen Teil von sich hineinzuprojizieren.

Nur einmal unterbrechen Sie diese Offenheit, wenn Sie den Lehrer interviewen und dabei einem Fage-Antwort-Schema folgen.

Das stimmt schon, aber ich würde dafür nicht das Wort Interview verwenden. Es ist vielleicht eher ein kleines Gespräch, das sich aus der Situation ergeben hat. Mir ist schon klar, dass diese Szene einen Bruch darstellt. Für manche Zuschauer mag das etwas irreführend sein, denn es könnte der Eindruck entstehen, dass man hier in eine klassische Methode des Dokumentarfilms zurückfällt. Trotzdem stehe ich zu dieser Entscheidung. Es erschien mir wichtig, dass der Lehrer in einem bestimmten Moment des Films direkt zu uns spricht, dass er den Gestus des Lehrenden ablegt. Denn man kommt ihm dadurch näher. Ich finde es schon interessant, dass dieser Mann, den man davor eine gute Stunde lang beobachten konnte, den man wegen seines Respekts für die Schüler mag, vielleicht sogar ein bisschen bewundert, dass dieser Mann uns plötzlich offenbart, dass er der Sohn spanischer Immigranten ist. Ausgerechnet dieser Mann, der das Ideal und den Geist der republikanischen französischen Schule in Reinform verkörpert, ist ein Einwandererkind. Ist das nicht schön?

„Sein und Haben“. Regie: Nicolas Philibert. Frankreich 2002, 104 Minuten