Fröhliche Wissenschaft

Eine Reihe mit Filmen des französischen Dokumentaristen Nicolas Philibert im Arsenal

Im Gegensatz zum Spielfilm steht der Dokumentarfilm immer unter dem unpopulären Verdacht, Aufklärung betreiben zu wollen. Besonders innerhalb des linken Kanons gilt er als kritische Unternehmung – wie anders sollte man auch mit dem Stoff der Wirklichkeit umgehen? Wir sind es also gewohnt, im Dokumentarfilm so absehbare Dinge vorgeführt zu bekommen wie schwierige Lebensläufe und soziale Problemlagen. Der flüchtige Blick auf die Filmografie Nicolas Philiberts scheint da genau ins Bild zu passen: Taube, Irre, Zwergschullehrer und Museen. Aber dann sind die Filme ganz anders. Philibert ist Positivist: Ihn interessiert das, was funktioniert, und wie es funktioniert. Probleme tauchen in seinen Filmen immer in Bearbeitung auf.

1992 machte der französische Dokumentarist mit „Le pays des sourds“ erstmals auf sich aufmerksam. In dem Film wird der Zuschauer in eine Parallelwelt entführt. Ob in der Schule, Zu Hause oder auf Wohnungssuche, erzählt wird viel, nur eben stumm. Immer wieder zeigt Philibert eine Klasse von tauben Grundschülern, die mit verschiedenen Methoden Sprechen lernen. Die Streitfrage, warum Taube überhaupt das Sprechen lernen sollen, behandelt Philibert auf seine Weise: Er zeigt, dass diese enorme Leistung vor allem den Hörenden zugute kommt. Ein Tauber, der spricht, verlangt weniger Anpassung von seiner Umwelt. Je länger man jedoch den Beobachtungen Philiberts folgt, desto deutlicher wird, dass die gesprochene Sprache für diese Menschen ein unproduktives Medium ist. Poesie und Lebendigkeit erhalten sie durch die Zeichensprache. Philibert führt erschütternde und ermutigende Lebensläufe vor, die begreiflich machen, warum das Land der Tauben so starke Tendenzen zeigt, sich vom Land der Hörenden zu isolieren.

Philiberts großes Interesse am Prozess des Lernens, das dem preisgekrönten „Etre et avoir“ seine anrührende Struktur gibt, zeigt sich hier bereits. Gegen Ende werden Zeugnisse verteilt, die Hauptperson des Films ist gewissermaßen ein Lehrer. „Der Dünne“ unterrichtet Zeichensprache mit so viel pantomimischer Ausdruckskraft, dass man als Zuschauer förmlich zum Lernen verführt wird.

Diese Art Hauptperson, die für das Publikum als Vermittler zwischen den Welten fungiert, gibt es auch in „La moindre des choses“ (1996). Allerdings ist es hier kein Instruktor, sondern ein Patient. Der Film beobachtet die Proben zur sommerlichen Theateraufführung in einer psychiatrischen Anstalt. Das Projekt kommt der Herangehensweise Philiberts, sich atmosphärisch und nicht sozialpädagogisch seinem Gegenstand zu nähern, sehr entgegen – gespielt wird nämlich kein Problemdrama zur Selbsterfahrung der Patienten, sondern ein aberwitziges Witold-Gombrowicz-Stück. Die psychiatrische Anstalt sehen wir fast nur von außen. Ein paar Einstellungen, in denen ungeheure Mengen farbiger Tabletten aus Alupackungen gequetscht werden, weisen eher dezent auf die hier praktizierte Medizin hin. Der weitläufige Garten wird dagegen zum idyllischen Ort, an dem die mehr oder weniger deformierten Gestalten im Theaterspiel ihr Kranksein zum Verschwinden bringen.

Die zwei Filme über Museumswelten, die das Arsenal zeigt, sind nicht so anrührend, aber genauso unterhaltend. „Un animal, des animaux“ (1994) rückt die Exponate einer zoologischen Sammlung aus den Magazinen ans Licht; „La ville Louvre“ (1990) beschreitet den entgegengesetzten Weg: Die berühmten Exponate sind nur Staffage, eine sperrige und verschiebbare Masse im Reich der Putzfrauen, Monteure und Restaurateure. Abseits der berühmten Museumsgänge tut sich eine endlose Welt voll dunkler Korridore und Türen auf.

Auch hier begegnet man übrigens in vielen Szenen Philiberts Faszination fürs Lernen – ein Erster-Hilfe-Kurs, Unterweisungen in Staubwischen und Feuerlöschergebrauch. Manche werden sich an Schulunterrichtsfilme erinnern; die Filme Philiberts besitzen etwas von deren optimistischer Grundstimmung. Sie sind eine fröhliche Wissenschaft.

BARBARA SCHWEIZERHOF

Die Reihe beginnt heute in Anwesenheit des Regisseurs, Termine in der cinema-taz