Unsicher im Wandel

Das Konzept der Grundsicherung trägt nicht. Es soll nur den Abbau von Sozialleistungen kaschieren. Stattdessen sollten lieber Ehrenamt und Erziehungsarbeit honoriert werden

Statt Armut und Sozialhilfe ohne Arbeit gilt nun: durch Mindestsicherungen versüßte Armut trotz Arbeit

Seit Beginn dieses Jahres garantiert ein neues Gesetz die „bedarfsorientierte“ Grundsicherung. Im Wesentlichen soll Menschen ab 65 Jahren und Schwerbehinderten, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, ein Einkommen gesichert werden. Eltern oder Kinder der Leistungsempfänger müssen nun keinen Unterhalt mehr zahlen, wenn sie weniger als 100.000 Euro im Jahr verdienen. Vor allem Gewerkschaftler und Sozialdemokraten feierten das Gesetz als großen Erfolg im Kampf gegen die „verschämte Altersarmut“.

Der Begriff Grundsicherung steht aber nicht nur für ein neues Gesetz, das im Zuge der Riester’schen Rentenreform beschlossen wurde. Er steht vielmehr seit den Siebzigerjahren für eine sozialpolitische Reformidee unter Linken und Alternativen: Mit der Grundsicherung wollte man den Sozialstaat umkrempeln, der soziale Hilfen an Lohnarbeit knüpft oder als bloßes Fitmachen für eine Erwerbsarbeit versteht. Stattdessen sollte ein allgemeines Bürgerrecht auf Solidarität eine bedarfsorientierte Absicherung ermöglichen.

Die Absage an den Sozialstaat Bismarck’scher Prägung entspricht heute dem Common Sense: Die Normalarbeitsbiografie, wo Vater vierzig Jahre malocht und Mutter sich um die Kinder kümmert, gehört der Vergangenheit an. Eine jahrzehntelange Massenarbeitslosigkeit, mehr gestückelte Erwerbsbiografien und mehr Armut trotz Erwerbstätigkeit insbesondere bei Familien zeigt: Die Bindung sozialer Transfers an Lohnarbeit funktioniert nur begrenzt. Ist es da nicht plausibel, die Grundsicherung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen? Nach den Vorstellungen von Bündnisgrünen und manchen Sozialverbänden soll deshalb schon bald eine spezielle Grundsicherung für Kinder folgen.

Doch diese Strategie ignoriert die veränderte sozialpolitische Situation, in der heute europaweit über Mindestsicherungssysteme diskutiert wird. So gehört deren Renaissance untrennbar zu einer Sozialpolitik, die bestimmt ist durch eine Stärkung privater Vorsorge und den Abbau umfassender öffentlicher Schutzgarantien. Grundversorgungskonzepte bei Rente, Krankheitsschutz und Armutsbekämpfung haben demnach ein Doppelgesicht: Sie antworten auf das Aufbrechen der Normal(arbeits)biografie. Sie sind aber auch ein Bestandteil des schönfärberisch als Umbau des Sozialstaates bezeichneten Leistungsabbaus.

Zudem wurde das Grundsicherungskonzept vor dem Hintergrund einer Politik entwickelt, die das dauerhafte Überangebot an Arbeitskräften durch eine Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt qua Frühpensionierungen und Vorruhestandsregelungen zu lösen versuchte. Heute kommen Grundsicherungsmodelle nur mehr ins Spiel, da diese massenhafte Ausgliederung aus der Arbeitswelt die Sozialsysteme überlastet: Ich-AGs, Minijobs statt Sozialhilfe oder „Rente mit 70“ – allerorten wird die Nichtarbeit von Erwerbsfähigen zum zentralen Thema. Die neue Devise lautet: weg von der Förderung von Ausgliederungen aus dem Arbeitsmarkt, hin zum mit Zuckerbrot und Peitsche geförderten Einstieg in miserabel entlohnte Beschäftigungsverhältnisse. Statt Armut und Sozialhilfebezug ohne Arbeit geht es künftig um eine durch Mindestsicherungen versüßte Armut trotz Arbeit. Sollte die Grundsicherung früher Existenzsicherung und Erwerbsarbeit entkoppeln, verkehrt die heute geforderte Grundsicherung diese Idee ins Gegenteil.

Wie sinnvoll sind also Grund- oder Mindestsicherungen? Sicher, ein Bestandsschutz für die bisherige Sozialhilfe ist keine Alternative. Zwar erfüllte sie in der Vergangenheit – wenn auch unzureichend – die Aufgabe, Abstürze aufzufangen und ein Minimum sozialer Teilhabe zu ermöglichen. Untersuchungen bei Alleinerziehenden belegen beispielsweise, dass sie Sozialhilfe als gesellschaftliche Honorierung ihrer Erziehungsleistungen betrachten. Und sind die Kinder größer, bleiben sie nicht notwendig in der „Sozialhilfefalle“ gefangen. Vielen gelingt der Wiedereinstieg in eine Erwerbsperspektive. Doch in einer rasch alternden Gesellschaft, bei mehr Niedriglöhnen und längeren Phasen von Erwerbslosigkeit ist eine allein kommunal finanzierte Sozialhilfe künftig überfordert.

Grundsicherungsmodelle und neue Finanzierungswege sind unabweisbar, aber auch politisch riskant: Sie unterliegen schon in der Gesetzgebung (weit stärker als die etablierte Sozialhilfe) der politischen Konkurrenz mit anderen öffentlichen Aufgaben. Mit dem wahrscheinlichen Ergebnis, dass eine Grundsicherung viele im Vergleich zur Sozialhilfe schlechter stellt. Genau dies ist von einigen Protagonisten auch gewollt: Während etwa bei den Bündnisgrünen die Grundsicherungsforderung einst aus der Kritik an einer unzureichenden Sozialhilfe entwickelt wurde, verbindet zumindest ihr wirtschaftsliberaler Flügel heute damit die diametral entgegengesetzte Absicht. Gemeinsam mit Arbeitgeberverbänden, dem Umfeld der FDP und Teilen der CDU wollen sie eine Grundsicherung, damit das Leistungsniveau der Sozialhilfe abgeschmolzen werden kann.

In Dänemark oder Holland gilt eine am Bedarfsprinzip orientierte Solidarität als Staatsbürgerrecht

Um mehr Menschen in Billigjobs zu zwingen, wollen sie neben besonderen Hilfen für Kinder insbesondere die Mehrbedarfszuschläge (etwa für besondere Ernährung) und Einzelfallhilfen kappen. Parallel dazu wird Armut sprachlich entsorgt. So lobpreist etwa die grüne Bundestagsfraktion die neue Grundsicherung: „Das Konzept der Rentenreform schafft durch den Wegfall der Unterhaltspflicht von Kindern die Vermeidung von Armut im Alter.“ Abhängig von Hilfe zu sein, ist so gesehen kein Zeichen von Armut mehr, sondern ein Indiz für die Vermeidung von Armut. Tatsächlich erzeugt die rot-grüne Rentenreform erst die Altersarmut statt sie zu vermeiden. So wird etwa das Niveau von Niedrigrenten nicht gesichert, die Verfassungsgerichtsvorgabe zur Familienförderung dagegen relativ flott berücksichtigt und eine obligatorische Privatvorsorge eingeführt.

Anders als die Einführung der Grundrenten in Dänemark und den Niederlanden beruht ein Mehr an Mindestschutz im Rahmen der anstehenden Sozialreformen hierzulande nicht auf einer tragfähigen Sozialkultur. Denn hier gilt eine am Bedarfsprinzip orientierte Solidarität nicht als Staatsbürgerrecht und als Ausdruck des Willens zum sozialen Zusammenhalt. Stattdessen wird der Anspruch auf Hilfe hierzulande noch immer eng mit erbrachten Leistungen verknüpft. Der Nazispruch „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ bringt dies zugespitzt auf den Punkt. Eine dieser änderungsträgen Sozialkultur fremde Grundsicherung missrät daher leicht zur einer technokratischen Antwort auf wirtschaftliche Zwänge. Ein verändertes Arbeitsverständnis, das durch eine Aufwertung von Erziehungsleistungen und ehrenamtlichem Engagement deren gesellschaftliche Relevanz auch finanziell honoriert, wäre deshalb eine klügere Strategie, um die Armut zu bekämpfen. HARRY KUNZ