Vom S-Bahn-Fahren

Wer die Berliner Ringbahn abfährt, wird bekannt mit der Stadt – vor Mauerfall genauso wie heute. Eine Geschichte in einem Zug

von THOMAS MARTIN

Am Anfang war das Abenteuer. Für ein Kind, das aus der Ostberliner Vorstadt kommt, ist die S-Bahn das nur zu speziellen Anlässen genutzte Vehikel. Wenn die Reise „in die Stadt“ geht, ins Kaufhaus auf dem Alexanderplatz oder noch weiter, wenn das Kind krank war, in die Charité. Im Sommer hätte man eine Station südwärts reisen können, nach Grünau, zum Baden an der Bammelecke, doch für solche Zwecke ist das Auto vorgesehen.

Die S-Bahn riecht streng, nach Kohle und Gummi, nach Kraft. Sie rumpelt wie irre, und sie fährt so schräg, dass man auf den glatten Holzbänken ins Rutschen gerät. Zwischen Schönhauser Allee und Pankow fährt sie so schnell, dass die Ohren klingeln und der Fahrtwind zu sehen ist, wie er an den Fenstern vorbeizischt, sich dort festzuklammern scheint und mit will, raus aus der stacheligen Strecke im Betonkorridor, wo niemand wohnt, niemand zu sehen ist außer der Hand voll Soldaten, die mit dem Fernrohr der kreischenden Bahn hinterhersehen. Soldaten sind in der Gegend selten geworden, und vom Bahnhof Schönhauser fährt nach Norden vorläufig nichts. Westwärts ist die Strecke „wegen eines Computerausfalls vorübergehend gesperrt“, in die andere Richtung geht der letzte Zug ab. Ostwärts, im Uhrzeigersinn, die Richtung der Kindheit.

Zunächst über Prenzlauer Allee, den Schluchtbahnhof. Von dem das Kind schlechte Träume haben konnte, wenn rechts und links die dunklen Häuserfronten aufeinander kippten und einen von der Plattform auf die lebensgefährliche (!) Stromschiene (von der das Kind gar nicht wusste, was das eigentlich war) zu schubsen drohten. Weiter über den Bahnhof Greifswalder Richtung Landsberger, zur Kinderzeit Leninallee.

Ab Lenin wird es ernst, da geht es auf den Zentralviehhof zu. Vorher schon die große Rampe, über die sie Schweine treiben, die das Kind nie sieht, aber oft genug hört, und das reicht. Und der Geruch, der hier immer hängt, als ob sich einer lange nicht gewaschen hat, und das sollte Fleisch sein, das Fleischkombinat. Der Zentralviehhofbahnhof wurde irgendwann in Storkower Straße umbenannt, und wo der Schlachthof war, strecken sich leer stehende Mietshäuser zwischen Industriedenkmalen aus.

Ringsum soll ein Riesenbaumarkt hin, als Vorposten der „Rekultivierung des Ringbahngeländes“. Ringbahn sagt heute niemand mehr, das Wort gehört in die Zentralviehhofzeit. Dahin gehört auch die Ringbahnhalle, die das Kind vom Bahnhof Frankfurter Allee kennt.

Es läuft an der Mutterhand, früh, noch im Dunkeln, von der S-Bahn in die Markthalle, wo einen als Erstes der Fleischer in der dunkelrot bespritzten Schürze empfängt. Dann die Obst- und Gemüsestände, wegen der Südfrüchte besucht; dann die mit Käse und Milch, den großen silbernen Kannen davor und dem sauren Geruch, der Wohlgeschmack verheißen soll. Die Halle steigt innen steil an und fällt wieder ab, als ob sie über sieben Berge gebaut wäre (wäre was, wenn man Rollschuhe anhätte).

Der per S-Bahn abzuschöpfende Speckgürtel wird von zwei Kreuzen in der Balance gehalten. Wirreres als das Ostkreuz gibt es für das S-Bahn-Kind kaum. Hier trifft, überlagert, schneidet und verliert sich alles. Da und dort geht es weiter in jede Richtung, über die Spree, über die Gleise, unter den Gleisen. Nach KW, nach Königs Wusterhausen geht es da, was jwd liegt, janz weit draußen, wo die Seen sind, die Wälder und die Russen. Am Ostkreuz war am ehesten die Ahnung zu bekommen, dass die Stadt etwas war, vor dem man Achtung haben musste.

Ja, es gibt noch eine Stadt, hat die Mutter gesagt, noch ein Berlin, manchmal kannst du es erkennen. Hinter Treptow zum Beispiel. Unter dir, der breite Fluss, das ist die Grenze. Am anderen Ufer ein anderes Land, heißt auch Berlin, eben nur West. Da darf man nicht hin. (Aha.) Und hier, wo die S-Bahn die Kurve macht, konnte man früher geradeaus fahren, da ging’s den Ring lang durch Süden nach Westen, nach Nord wieder hoch. Eine Stunde später kommst du hier wieder an. Wenn du deine Station verpasst hast, bleibst du einfach sitzen, bis die noch mal vorbeikommt, für zwanzig Pfennig die Runde kein Problem. (Muss Spaß gemacht haben.)

Geht jetzt aber nicht. Wo es mal weitergegangen sein muss, ist nur noch ein Bahndamm mit Birkenbefall zu sehen. Der muss im Irgendwo enden, da hinten, wo die gleißend weißen Neubautürme wie von Ansichtskarten in den Himmel stechen, plasteglänzend, das ist der Westen. Köllnische Heide, Sonnenallee. Blumige Namen. Kannst du riechen. Riecht nach verbranntem Brot, das ist die Kaffeerösterei und Kakao von Sarotti, da machen sie Westschokolade. (Aha.)

Der Ring ist wieder ganz. Wo früher Teilstücke waren, die nur die Fantasie verlängern konnte, liegen Schotterbetten, die ungenutzten Reste sind grün oder verbaut. Heute lässt sich das wieder fahren. Vorausgesetzt, man hat, kann man sein eigenes Kind mitnehmen. Immer im Hundekopp rum, das ist die Form, da hast du ein Bild, eben fahrn wir der Töle durchs Genick, is doch ne schöne Idee … nee? Kuck die alten Pläne an, da kannst du es sehen.

Lass sein die Geschichten von Grenzpolizisten und Schmugglern, von Betrunkenen, die sieben Stunden im Karree gefahren sind, Geschichten von Dampf und unter Strom, vom modernsten Schnellbahnnetz der Welt 1931, von Sektoren und Teilung und Schließung. Was können dem Kind von heute die Namen sagen, die das historische Off raunte, alle die Geisterbahnhöfe, die man nun abfährt wie auf der Schnur? Die Nord-Süd-Kellerbahn, die man unter der Oranienburger rauschen hörte, die U-Bahn unter der Friedrichstraße? Wenigstens einmal, nur aus Versehen, hätte man ja mal mitfahren können. Nein, dafür musste der Zeigefinger auf dem alten Stadtplan der Eltern herhalten, aus der Zeit, als die über die Sonnenallee ins Kino spazieren konnten und „Sie tanzte nur einen Sommer“ dort drüben ansahen.

Jetzt sind wir beinahe halb rum, der Kompass zeigt Süd, Neukölln ist passiert. Langgrüne Fluchten, rechts der Panoramaflugplatz Tempelhof, links die A 100. Papestraße, Schöneberg, Innsbrucker Platz. Immer längs der Autobahn in die Westkehre nach Norden. Die Lefzen, da sind wir jetzt. Der Hundeunterkiefer sozusagen. Neue Namen, alte Stationen. Schmargendorf heißt Bundesplatz; Hohenzollerndamm und Halensee heißen so, wie sie hießen.

Westkreuz, das Hundsgebiss, kommt. Westkreuz, das weniger frequentierte Pendant, das als Bahnhof im Ursprung den Namen „Ausstellung“ trug, vom nahe gelegenen Messegelände. Ein Titel, der auch heute Genugtuung hätte: die Ringbahn als rollendes Museum, wenigstens für die Generation, die das Wiedersehen mit dem (zu Teilen erheblich veränderten) Ringpanorama feiert und noch den Fahrkartenkauf als Ritual vollzieht, wer schwarzfährt, kann schwerlich genießen.

Zur Dekoration des musealen Aspektes dient der morsche Holzbahnsteig mit seinen Richtungsweisern – Prenzlau, Nauen, Neustadt/Dosse, Wittenberge, Templin – die, zerschlagen wie sie sind, eher Schwarzmarkt und Viermächte zitieren als profitorientierte Verkehrspolitik. Sämtlich weit nordöstlich im ehemaligen Hoheitsgebiet der Deutschendemokratischen gelegen, machen sie dem stillen Westkreuz der Reichweite nach mehr Ehre als etwa Spandau, Ahrensfelde, Potsdam Stadt.

Leer ist es am Kreuzbahnhof wie zur besten Boykottzeit, als nationale Westberliner mit Papptafeln am Hals die Eingänge blockierten und interessierte Fahrgäste mit „Du zahlst noch Westgeld für Ulbricht!?“ verprellten. Da stieg man dann auf BVG und Volkswagen um, statt Deutsche Reichsbahn, die als rollende Agitpropmaßnahme den Westen mit roten Wimpeln und Hammer-und-Zirkel-im-Ährenkranz vor der Frontscheibe durchquerte. Zunehmend verwaist auf reduziertem Terrain, feindlich-elektrische Schnittlinie durch die Insel der Freiheit, tabu. Westkreuz klang dem Ostberliner in den Ohren wie geklaut. Ostkreuz, das war was. Rummelsburg, Strausberg und dahinter lag Polen. Nach Westkreuz kam man gar nicht erst hin.

Westkreuz über Witzleben nach Hundeschnauzewestend. Wenn die Bahn auf den Hund gekommen ist, dann steht der Hund inzwischen auf der Autobahn. Wenn du lang genug auf derselben Seite aus dem Bahnfenster siehst, siehst du dich links, dann wieder rechts und jetzt beidseitig von den Betonbanden der A 100 umflossen. Die dauernde Windung der Stadtautobahn lässt einen die Fahrt mit der Ringbahn als Trip auf der Möbiusschleife durch die Zeit erleben. So normal, wie sie nie war, kannst du sie heute durchfahren, theoretisch jedenfalls.Jungfernheide, Beusselstraße, Westhafen. In der Nordkehre nach Osten fließt wieder die Spree, still und beruhigt wie die Bahn, die wie auf Grenzlandfahrt Industriegebiete quert. Den Großmarkt am Westhafenkanal, den alten Güterbahnhof Moabit. Wie viel weiten Platz es gibt in der Stadt. In der Dämmerung scheint das Wüste zu sein. Da die Häuserzeile längs der Quitzowstraße, Jahrhundertwendebürgerhäuser, wie Küste in kommender Brandung, die den kiesfarbenen Grund mit Verkehr füllen wird. Katastrophenklimakühler Nachmittag, die Sicht leicht verschwommen. Am Horizont hebt sich Profanbau ab. Gestrüpp frischrostiger Gleise, Dämme, die auf den Schienenstrang warten, gähnende Tunnel, die das Areal zwischen Lehrter Bahnhof, Gesundbrunnen und Westhafen mit Fernverkehr belegen. Demnächst. Vorher aber umsteigen, in den Zug, der eben kommt.

Der Zug ist ein Kurzzug, sechzig Meter im Sprint. Geschafft, auf die Presslufttüren ist Verlass. Der Zug fährt nicht wie angegeben Ring, der hält nach der übernächsten Station. Umsteigen Gesundbrunnen, wie gehabt seit zwölf Jahren. In der Menge die Spähtrupps der als „Bahnberater“ verpflichteten Amateure. Sie liegen sich mit Echtpersonal in den Haaren, irgendwer hat versagt, die anderen und der Rechner, nicht wir. Überhaupt, dass es zwölf Jahre gedauert hat mit dem Ring, liegt an der Planung und an nichts sonst. Weil die sich nicht klar werden konnten, ob Berlin mehr Fernbahn oder S-Bahn braucht oder doch noch mehr Stadtautobahn … Danke für die Information … Einsteigen, bitte! Zssrckblbn! Nein, das war der falsche Zug, Gott sei Dank, wir sind draußen.

THOMAS MARTIN, 38, fährt S-Bahn