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Früher ernährte sich der Krieg vom Fußvolk der Soldaten. Heute, in Zeiten des Hightechkrieges, frisst er Unmengen an Geld. Jeder Steuerzahler trägt so sein Scherflein zum Töten bei. Über einen Handwerker, der nicht ungefragt zum Kriegsherrn werden will

von ANDREAS ROTH

Sebastian Fleischhack ist ein Freund des Sägens. Deshalb hat er sein kleines fahrendes Handwerk, mit dem er alte Lehmhäuser renoviert, nach Talos benannt, dem Erfinder allen Schneidewerkzeuges in der griechischen Sage. Einiges muss Sebastian Fleischhack von ihm gelernt haben. Nicht nur übers Handwerk, auch über die Tragik des Sägens. Von seinem Meister Daidalos wurde Talos vom Athener Burgfelsen gestürzt, weil er ihn zu überflügeln drohte. Sägen gefährdet nicht nur die Gesundheit, Sägen gefährdet mitunter auch die Macht.

Der Bauhandwerker Fleischhack lebt im mittelsächsischen Hügelland, einem Landstrich in lieblichem Grundton. Die Geschichte begann im Frühling vor vier Jahren, wo hier manches blühte und in Serbien Bomben fielen. Was immer in diesem Krieg auch wie zusammenhing, jedenfalls saß Sebastian Fleischhack zu Hause im barocken Pfarrhaus von 1644 des kleinen Bauernnestes Leipnitz, sah die Nachrichten und bekam ein Problem: „Ich kann jetzt nicht den Fernseher wieder ausschalten und mir meinen Rotwein einschenken.“ Fleischhack bekam ein Problem, als er begriff, dass man eben nicht nur mit seiner Person als Soldat Kriegsdienst leistet, sondern auch mit Geld. „Dann war es doch eigentlich nur logisch, dass ich, wenn ich diesem militärischen System meine Person entziehen will, ihm auch mein Geld entziehe.“ Aus dem Netz des Krieges heraussägen wollte er sich gleichsam. Keinen Groschen mehr ausgeben für „Kollateralschäden“, die tote Menschen waren.

Da traf es sich, dass der Lehmbauer Fleischhack just in dieser Zeit die erste Steuerrechnung für sein Gewerbe begleichen musste. Er tat es, freilich zog er jene 10,5 Prozent ab, die der Bundestag für jenes Haushaltsjahr fürs Militär eingeplant hatte. Aus Gewissensgründen, wie er dem Finanzamt Grimma schrieb. Das Geld spendete er lieber, selbstredend „beträchtlich aufgerundet“, dem nordrhein-westfälischen Ausbildungsprojekt für zivile Friedensfachkräfte. Als Zeichen sozusagen, für friedliche Konfliktlösung.

Was folgte, war die Liturgie aller Steuerverweigerer, der Weg durch die Instanzen. Finanzamt, Sächsisches Finanzgericht und Bundesfinanzhof wiesen einhellig und in dürren Worten das Ansinnen von Fleischhacks Gewissen als „unbegründet“ zurück. Am 28. Februar 2002 faxte sein Anwalt dem Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde in der Sache zu. Eigentlich, sagt Sebastian Fleischhack, liegt sein Anliegen erst jetzt an der richtigen Stelle. Um die Grundordnung des Staates geht es ja, um das Verhältnis von Steuern und Gewissen, grundsätzlich.

Und jetzt wartet Sebastian Fleischhack, sitzt in seiner Küche unter einer schwach leuchtenden Birne und schneidet Schokoladenkuchen auf. Die Türen sind tief blau, der alte Holztisch längst vom Holzwurm okkupiert. Kann sein, dass sich in solcher Umgebung leichter übers Gewissen reflektieren lässt. Nur hat Sebastian Fleischhack eben keinen verbitterten Aussteigervollbart, sondern wache, mitunter ironisch zwinkernde Augen hinter der kleinen Brille, kurze graue Haare und spricht in einer warmen Färbung, die man im Freistaat „kammersächsisch“ nennt, was eine gewisse Abgebrühtheit und Weltläufigkeit im Ton gar nicht erst aufkommen lässt.

In einem Pfarrhaus wurde er 1959 geboren: „Ich nenne mich Christ bis heute.“ Er denkt lange nach. „Obwohl das für mich nicht mehr die Rolle spielt wie früher. Aber was noch da ist: Gott bedeutet für mich, dass es eine Kraft gibt, die nicht will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Dass Gewalt, Krieg und Hunger nicht naturgegeben sind, sondern dass sich daran was ändern soll.“ Keine Chance für Finanzamt und Richter, die bisweilen gern Matthäus 22 aufsagen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.

In der achten Klasse verweigerte Fleischhack die FDJ-Mitgliedschaft, nachdem er sich durchs Statut gearbeitet hatte. Nach seiner Zeit als Bausoldat bei der NVA veranstaltete er unter dem Dach der Kirche Vorbereitungsseminare für pazifistisch gesonnene künftige Rekruten. Das tat er, weil er „das Bittere“ des Militärdienstes nicht so schnell vergessen konnte. Derweil die anderen Kameraden in der Erinnerung muntere Anekdoten formten aus dem Wehrdienst. Man könnte meinen, das Staatswesen wäre auf ein solches Vergessen des Bitteren angewiesen, so einhellig und ohne größeren juristischen Aufwand wurden Gewissenszweifel bei der Steuer in bundesdeutschen Gerichten bisher abgebügelt.

Richter Paul Tiedemann vom Verwaltungsgericht in Frankfurt/Main erinnert das daran, wie er in den Achtzigerjahren öfters über das Gewissen von Kriegsdienstverweigerern zu Gericht sitzen musste. Sein Vorsitzender Richter wollte damals die jungen Männer ein wenig aufs Glatteis führen mit der ausgeklügelten Frage, warum sie denn eigentlich nicht die Steuern verweigern, wenn sie nichts vom Militär hielten? „Während die nun mühsam über eine Antwort nachdachten“, erzählt Richter Tiedemann, „hatte ich eben auch Zeit, über die Antwort nachzudenken.“ Tiedemanns Antwort war sein Buch „Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen“, bislang das einzige deutschsprachige Fachbuch zum Thema, in dem er Leuten wie Sebastian Fleischhack Recht gibt. In Friedenskreisen wurde darin gern geblättert, bei Gerichtsurteilen über Steuerverweigerer wurde es wohl ein paarmal zitiert, aber durchgängig ablehnend. „Und im Kollegenkreis wurde das eigentlich mehr belächelt.“ Wenn man ihn dort auf seine Bücher anspricht, dann eher auf seinen Internetratgeber für Juristen.

Paul Tiedemann sieht solches mit dem Klarblick des Außenseiters: „Militär ist ein Punkt, da schützt das Verfassungsgericht nicht die Verfassung. Da kann die Regierung im Prinzip machen, was sie will.“ Den Grund sieht Paul Tiedemann in einem tief sitzenden Argwohn der Karlsruher Richter gegenüber Dissidenten: „Leute, die sich da auf ihr Gewissen berufen, sind eben tendenziell Drückeberger.“ Vielleicht aber ist das Paragraphenlabyrinth der Justiz auch nur ein kollektives Bollwerk zur Verklärung des Satzes: „Wir werden immer schuldig, wenn wir handeln.“

Der das sagt, Klaus Tanner, evangelischer Ethikprofessor aus Halle, setzt fast entschuldigend nach: „Das ist eine christliche Einsicht, aber keine moralisch schnelle Antwort.“ An der Martin-Luther-Universität lehrt er, und deren Namenspatron sprach auf dem Sterbebett: „Wir sind allzumal Sünder, das ist wahr.“ Dass dessen Lehre später zum allzu leichtfertigen Abfinden und Legitimieren von Unrecht herhalten musste, das ist auch wahr. Und wer sollte das besser wissen als Klaus Tanner, der vom Bundeskanzler in den Nationalen Ethikrat berufen wurde und aus nächster Nähe Entscheidungen wie die zum Afghanistankrieg mitbekam: „Wie die sich damit gequält haben. Einer hat zu mir gesagt: Am liebsten würden wir überhaupt nicht entscheiden, Distanz nehmen. Aber es geht nicht. Denn nichts tun ist auch nicht schuldfrei.“ Das Drama der Freiheit in der Vertonung der Mächtigen, vorgetragen von denen in ehrlichem Schmerz oder im Schmierenpathos der Selbstrechtfertigung.

Doch der Theologe Tanner verweist auf die Verwobenheit des Menschen mit Gesellschaft und Kultur und schreibt den Gewissenspuristen ins Stammbuch: „Es ist ein falsches Verständnis von individueller Freiheit zu meinen, ich könne von allen Dingen Distanz nehmen. Ich kann zwar innerlich zu allem Distanz nehmen. Aber das heißt nicht, dass ich dann nichts mehr damit zu tun habe.“

Sebastian Fleischhack isst das letzte Stück Schokoladenkuchen und fegt die Krümel vom Teller. Natürlich kennt er die Zusammenhänge. Und wer weiß, von welcher Drittweltplantage der Kakao für den Kuchen kommt. „Wenn ich aber nun zufällig ein Mensch geworden bin, der über so was nachdenkt, habe ich eben ein Problem.“ Sebastian Fleischhacks Antwortstrategie setzt im Mikrokosmos an, bei seiner Holzheizung und seiner Komposttoilette, und in Leipnitz ist er außerdem der örtliche Friedensrichter. Um dann auf die Makroebene vorzustoßen. Heißt: wenigstens einen Anfang machen. Und außerdem denkt er in größeren zeitlichen Räumen. An die frühen Achtzigerjahre erinnert er sich, als Friedensarbeit in der DDR vergeblich schien – und wenige Jahre später der Grundstein der Wende. „Wenn die Zeit reif ist für Veränderungen, ist es wichtig, dass sie dann schon vorbereitet sind durch einzelne Verrückte.“

Freilich, bis dahin wird der Verrückte auch als solcher angesehen. Auch von manchem Freund oder Bekannten, für die die Verhältnisse eben so sind, und so was kann einsam machen. „Mehr gefragt sind natürlich die Leute, die lustig sind und Frohsinn verbreiten und sich nicht abends an den Computer setzen und Papierkrieg mit dem Finanzamt führen.“ Wobei spätestens hier Talos wieder ins Spiel kommen dürfte, der Erfinder der Säge. Auch Sebastian Fleischhack sägt ja, wie sein Handwerkspatron. Talos hatte an seinem Meister Daidalos gesägt, was ihn letztlich scheitern ließ. Sebastian Fleischhack sägt im verwachsenen Unterholz von Geld, Waffen und Mitschuld – und weiß ebenfalls ums Scheitern.

Jedoch, das muss gesagt werden, auch Daidalos, Talos’ Meister und Mörder, stürzte letztlich ab. So ist es wohl mit der Sage wie mit dem Gewissen: ein nicht endendes Drama für jeden, der es lesen kann. Was bleibt, ist die Säge.

ANDREAS ROTH, 25, ist freier Journalist. Er lebt in Dresden