Jede Menge Dysfunktionalität

Netzwerk der Zusammenarbeit, Suchmaschine nach den dramatischen Stoffen der Gegenwart: Beim dritten Festival Internationaler Neuer Dramatik in der Berliner Schaubühne ging es um Krieg, um Sex und das Theater dazwischen. Das Problem ist: Wie nur kriegt man diese Enden zusammengebogen?

Ein missionarischer Glaube andie erlösende Macht des SexWer fürs Zuhören bezahlt wird, darf sich nicht über erfundene Geschichten wundern

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Remap the world: die Welt des Theaters neu kartieren. Wie kleine Kriegsschiffe, die sich auf ihrem Weg zur Flotte formieren, waren neue Stücktexte und internationale Gastspiele auf dem „Fahrplan“ des 3. Festivals für Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) dargestellt, zu dem die Schaubühne nach Berlin eingeladen hat. Blaues Meer war jeder Programmseite unterlegt, zart punktiert die Linien zwischen Berlin und den Herkunftsstädten der Autoren, Belgrad, Reykjavík, Stockholm, Antwerpen, London, New York. Ein Netzwerk der Zusammenarbeit wurde ausgestellt, eine Suchmaschine nach den dramatischen Stoffen der Gegenwart. Aber dieser visuellen Rhetorik des Krieges und einer globalen Navigation zum Trotz führten die meisten Stücke nur sehr nah heran an eine innere Front: an die Unmöglichkeit der Liebe und die Depression. So scheinen die Navigatoren des Theaters, die aufgebrochen waren, eine Welt zu suchen, letztlich zurückgeworfen auf die Frage zu sein: Wer fickt wen?

Remap the region: Seit zwei Jahren lädt die Schaubühne immer sonntags in ihren „Streitraum“, in dem man Intellektuellen beim Diskutieren zusehen kann. Diesmal ging es um den „grenzenlosen Krieg und das amerikanische Imperium“. Eingeladen waren zu dem Gespräch die amerikanische Professorin für Völkerrecht und Sicherheitsberaterin Ruth Wedgwood und der Publizist Tariq Ali. Eine gemeinsame Basis der Auseinandersetzung fanden sie nicht. Tariq Ali redete über die wahren Interessen des amerikanischen Imperiums, in der Region der ölfördernden Länder sich als kontrollierende Macht neu zu etablieren. Ruth Wedgwood beschrieb den Irak als waffenstarrende Bedrohung für die Welt. Was von diesen Positionen auf dem Theater verhandelbar sei, wollte der Moderator Mathias Greffrath von Falk Richter, der als einer der Autoren der Schaubühne auf dem Podium saß, wissen. Der bot die Theatermacher als Beobachter an, sozusagen bestens ausgebildet, um die Inszenierungen, mit der die Politik ihre Beschlüsse öffentlich zu legitimieren sucht, zu beschreiben.

Aber genau an dieser Linie fand das Theater nicht statt. Als ob es sich fürchtete, an dieser Aufgabe zu scheitern. Wie ein blinder Fleck, der mit Schuldbewusstsein drückt, weil man sich eigentlich darum kümmern müsste, schwebte der politische Diskurs und seine Stagnation trotzdem über allem. Als ob das Unvermögen, zu den wichtigen Problemlösungen beizutragen, die Verzweiflung und die Radikalität gesteigert hätten, mit der die Dinge im Inneren zur Explosion gebracht werden.

Eine Ausnahme bildete das Stück „Homewrecker“ von der New Yorker Autorin Kelly Stuart. Zwei Frauen erzählen von ihren außerehelichen Affären. Dazwischengeschnitten sind Zitate aus den Reden von George W. Bush aus der Zeit des Wahlkampfs, die auf die Bühne gebracht sofort wie eine Karikatur wirken. Das sehen auch Cindy und Beth so, für die Bushs Dummheit das Ende der Welt markiert. Der Witz des Stückes aber ist: Wie sie sich mit ihren Liebhabern brüsten und als Befreierinnen der Männer – „Nur bei mir ist er er selbst“ – und gar als deren Kulturbringerinnen sehen, hat etwas von dem missionarischen Eifer Bushs. Ihr Vertrauen in die erlösende Kraft des Sex scheint eine der Kehrseiten seiner Botschaft.

So beschrieb „Homewrecker“ mit innerem Knirschen einen Konflikt, der die Dramaturgie der Schaubühne immer noch umtreibt. Sie bekommt die beiden Enden Politik und Privatheit einfach nicht mehr zusammengebogen. „Homewrecker“ wird bestenfalls einmal eine Farce. Vielversprechender dagegen war die Lesung erster Szenen von „Amerika, Teil Zwei“ von Biljana Srbljanovic, das die Autorin aus Belgrad, die in New York lebt, für die Schaubühne schreibt.

„Amerika, Teil Zwei“ nimmt Figuren aus Kafkas Roman „Amerika“ auf. 90 Jahre später muss Karl Rossmann noch immer Kellner, Portiers und Penner fürchten. Mit professioneller Impertinenz durchdringen sie in wenigen Sekunden seine Fassade der Zugehörigkeit, aufgebaut aus schnell erworbenem Geld. Dahinter fühlt er sich so verloren, dass er sogar versucht, sich selbst für jemand anderes zu halten, vielleicht für seinen Vormieter, dessen Mutter noch immer in dem teuren Appartement anruft.

Lange Passagen von „Amerika, Teil Zwei“ wirken wie ein Drehbuch, ausführliche Bildbeschreibungen der Szenerien im Restaurant, das immer zu teuer, und der U-Bahn, die immer zu verlassen ist. In der szenischen Lesung, eingerichtet von Thomas Ostermeier, erzeugt gerade diese Prosa eine eigene Stimmung, in die die Schauspieler zusammen mit dem Publikum als gespannte Zuhörer eintauchen. Oft eröffnet gerade, dass sie nicht darstellen müssen, was die Regieanweisung von ihren Handlungen behauptet, einen großen Freiraum.

Zehn Stücke wurden in szenischen Lesungen, vier in Gastspielen vorgestellt während der fünf Tage des Theaterfestivals. Das Offene der Stücke, die Vorläufigkeit der szenischen Lesung, die lustvolle Improvisation und das Tempo, mit dem unterschiedliche Texte hintereinander auf die Bühne kommen, erzeugten eine eigene Leichtigkeit.

Diese Ökonomie kommt besonders dem Theater zugute, das seinen Inhalt als Trash und Genreparodie findet. Gegenüber der Schaubühne war zwischen der Discothek „Far Out“ und einem Studio für Aqua-Aerobic hinter großen Schaufensterscheiben das Suburban Motel eingerichtet. Hier fand jeden Abend als Spätprogramm eine Episode des „Suburban Motel-Zyklus“ von George F. Walker statt, einem kanadischen Autor, der damit das erste Mal im deutschsprachigen Raum vorgestellt wurde. Die Episode „Nur für Erwachsene“ erzählte von einer Anwältin, zwei Cops, einem versehentlich erschossenen Verdächtigen und jeder Menge zerbrochener Ehen. Mit aberwitzigem Tempo rast das Stück durch alle vorhersehbaren Kombinationen, und während sich die abgelesenen und blutbeschmierten Manuskriptseiten am Boden häufen, japst das eng gequetschte Publikum nach Luft vor Lachen. Die Vereinbarung als Spiel, das sich ständig auch als Spiel vorführt, das Einverständnis der Schauspieler mit dem Publikum, das man einfach mal in dieser völlig durchgeknallten Rolle alles rauslassen darf, was fast ein Jahrhundert Kinogeschichte an Darstellungswünschen gebracht hat, funktioniert bestens unter der Voraussetzung des einmaligen Durchlaufs.

Das Genre bestimmt den Inhalt. Was einmal den Stoff der antiken Tragödien ausmachte, als Inzestverbot und Vatermord die Frage der Macht nicht nur in der Familie, sondern auch im Staate regelten, ist jetzt als Skandalgeschichte, als Soapopera, als psychologisches Drama und historisches Sittengemälde lieferbar. Jede Menge dysfunktionale Familien und Beziehungen waren im Angebot.

Bruder und Schwester lieben sich, der Sohn befriedigt die Mutter und die Tochter den Vater. „Aber befriedigen Sie ihre Mutter denn etwa nie?“, fragt voll Empörung das Mädchen Karen den von dieser Situation dann doch etwas überforderten Gudjon. Er ist als psychologisch geschulter Familienberater gekommen, der in Karens Familie den interessantesten Fall seiner Karriere wittert. In der sehr abgründigen Farce „Engel“ des isländischen Autors Hávar Sigurjónsson bemächtigen sich die Missbrauchten ihrer Geschichte und wenden die Sprachmuster der Analyse gegen den Analysierenden als Abgesandten eines Systems, zu dem sie keinen Zugang haben. Wer fürs Zuhören bezahlt wird, darf sich nicht wundern, welche Geschichten für ihn erfunden werden. Sigurjónsson kehrt in diesem grotesken Stück Ordnungen um, von der Verteilung der Räume – der Vater schläft im Klo, und geschissen wird in Blumenvasen – bis zu der symbolischen Ordnung der Sprache. Nur noch in der Katastrophe wahrgenommen zu werden, dies ist das Grundgefühl des Lebens, aus dem die Geschwister Joe und Karen heraus handeln und mit Zufriedenheit untergehen.

Von einem ähnlich starken Familienverband, nun aber körpernah ausagiert, erzählte auch das als Höhepunkt des Festivals angekündigte Gastspiel des Ensembles ZT Hollandia „De Metsiers“. Mit dem Regisseur Johan Simons hofft die Schaubühne demnächst zusammenzuarbeiten. Mit den „De Metsiers“ hat er einen der bekanntesten Nachkriegsromane Hollands aufgegriffen. Der Familienroman von Hugo Claus ist auf einem Bauernhof irgendwo in den Sümpfen angesiedelt. Alle versuchen den Sohn zu schützen, den Deppen, den Narren, und erleben seine Ausfälle als Strafe für irgendwelche, weit zurückliegenden, dunklen Geschichten. Daneben scheint der Krieg, der gerade vorbei ist, mit keinem Ton in die Familie gedrungen. Doch ihre Stärke ist zugleich ihre Schwäche. Denn an der Unmöglichkeit, sich mit der Außenwelt auszutauschen, gehen sie zugrunde, und das erzählt Simons als wahrhaftige Tragödie.

Aus dem Theater Het Toneelhuis in Antwerpen, dessen künstlerischer Leiter Luk Perceval für die Schaubühne zuletzt „Das kalte Kind“ (siehe taz, 10. 12. 2002) inszeniert hatte, war das „Märchenbordell“ zu Gast. Da strandet man nun völlig auf der einsamen Insel des Ichs. Als Zuschauer begibt man sich einzeln in die Hände eines Schauspielers, wird zu Bett gebracht und bekommt mit verbundenen Augen Texte (von Peter Verhelst) ins Ohr geflüstert: mit Pfefferminzatem und Erdbeergeschmack schleichen sich Geschichten vom Lieben und Lügen, von Wünschen und Vertrauen ins Gehör. Das „Märchenbordell“ ist wohltuend wie eine Wellnesskur, Kunst als die perfekte Simulation der Realität, Tasterlebnisse und Entspannung inklusive. Nichts wird mehr repräsentiert, man selbst ist die Bühne und der Austragungsort. Aber auch der einzige Inhalt, und das ist zugleich eine traurige Kapitulation.