„Der Vertrag war ein bewusstes Missverständnis“

Interview SABINE HERRE

taz: Herr Cohn-Bendit, Ihre politische Aktivität in Frankreich und Deutschland ist fast so alt wie der Elysée-Vertrag, nämlich 40 Jahre. Wenn Sie die politische Kultur in beiden Staaten vergleichen – wo macht es mehr Spaß, Politik zu machen?

Daniel Cohn-Bendit: Die Deutschen machen oft eine Politik, die sich auf ihre Lebenserfahrung stützt, daher kommt sie sehr grundsätzlich, auch schwerfällig daher. Zum Beispiel bei der jetzigen Debatte über den Irakkrieg. Da wird weniger politisch und viel mehr philosophisch-moralisch diskutiert. Da bildet sich eine Friedensbewegung, die grundsätzlich gegen Krieg ist. Ich bleibe aber dabei, es gibt Situationen, in denen eine militärische Intervention notwendig ist. Daher brauchen wir in Deutschland eine wirkliche politische Diskussion über das Vorgehen der USA und wie sie den Kampf gegen den Terror für ihre Interessen im Irak missbrauchen.

Und die Franzosen sind anders?

Die Franzosen sind politischer. Sie können sich aufgeilen an ihrer politischen Virtuosität. Daher scheint ihre Politik manchmal etwas leichtfüßig. Mein letzter Europawahlkampf in Frankreich im Frühjahr 1999 hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht. Es war eine politische Herausforderung, einen Platz im politischen Leben Frankreichs zu erringen. Da musste man mal mit dem Säbel, mal mit dem Florett fechten. Doch wenn ich mir heute die Verhärtung der französischen Politik, der französischen Linken und der französischen Grünen ansehe, dazu die übermächtige Dominanz der Konservativen, dann tendiere ich dazu, bei der nächsten Europawahl im Jahr 2004 in Deutschland zu kandidieren.

Als der Elysée-Vertrag vor 40 Jahren im Bundestag diskutiert wurde, haben alle Parteien die Befürchtung geäußert, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit einen antiamerikanischen Touch bekommen könnte. Töne, die einem angesichts der aktuellen Debatte über ein gemeinsames Vorgehen im Irakkonflikt vertraut vorkommen. Wie realistisch ist das: eine deutsch-französische Kooperation gegen die Weltmacht USA?

Der Elysée-Vertrag war ein produktives, bewusstes Missverständnis. Der Franzose Charles de Gaulle und der Deutsche Konrad Adenauer verfolgten völlig unterschiedliche Ziele. De Gaulle ging es um die Fortsetzung einer von den USA unabhängigen Politik, er wusste, dass Paris allein dies nicht durchstehen konnte. Für Adenauer dagegen bedeutete die deutsch-französische Verständigung die Vertiefung der Westanbindung. Ihm war klar, dass gute Beziehungen zu den USA allein nicht ausreichen. Dieses Missverständnis haben beide bewusst in Kauf genommen. 40 Jahre danach kommt dieser Widerspruch klar zu Tage. Die Aufgaben, die der Vertrag stellte, sind erfüllt. Bei der jungen Generation gibt es keine Narben aus dem Zweiten Weltkrieg mehr. Die deutsch-französischen Beziehungen haben daher nur eine Perspektive, wenn sie politisch neu begründet werden.

Und wie könnte solch eine Neubegründung aussehen?

Das ist das Problem. Daran trauen sich beide Seiten noch nicht so recht ran. Denn es ist die europäische Perspektive, also die europäische Transzendierung der gaullistischen Politik. Nicht nationale Unabhängigkeit von den USA, sondern europäische Autonomie gegenüber den USA.

Es gibt noch eine weitere historische Reminiszenz: Mit der politischen Union der sechs EWG-Staaten ging es nicht voran. Also setzte Frankreich auf bilaterale Zusammenarbeit. Sieht so auch die Zukunft aus: ein deutsch-französisches Bündnis, das die Politik der EU dominiert?

Das Besondere an der deutsch-französischen Zusammenarbeit ist, dass es hier tatsächlich gelungen ist, eine jahrhundertealte Feindschaft zu überwinden. Hierin liegt die Stärke Europas. Denn jeder weiß doch, dass zwischen dem föderalen Deutschland und dem gaullistischen Frankreich ein unüberbrückbarer Verfassungsgegensatz besteht. Dennoch ist es mit dem neuen deutsch-französischen Vorschlag zu zwei europäischen Präsidenten gelungen, einen Kompromiss zu finden. Egal, ob ich diesen Vorschlag einer Doppelspitze für gut halte oder nicht. Entscheidend ist, dass es zustande gekommen ist.

Unüberbrückbare Gegensätze wurden überbrückt – haben da die anderen EU-Staaten, gerade die kleineren, überhaupt noch die Möglichkeit, sich dem deutsch-französischen Vorschlag zu widersetzen?

Die Verfassung wird ja nicht von den Regierungen geschrieben, sondern vom Konvent. Dort werden die deutsch-französischen Vorschläge ebenso wie unzählige andere in den nächsten vier Monaten diskutiert werden. Die Einigung auf die Doppelspitze ist eine Einigung ohne Netz – es weiß niemand, was rauskommen wird im Konvent. Ich als Föderalist bin dafür, dass der Kommissionspräsident der künftige Präsident Europas sein soll. Aber ich weiß auch, dass ich diese Position heute noch nicht durchsetzen kann. Darüber kann ich mich ärgern, aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur viele Staaten, sondern auch ein Teil der BürgerInnen Europa weiterhin als Staatenbund und weniger als föderalen Staat sieht. Dem trägt der deutsch-französische Vorschlag einer Doppelspitze Rechnung. Und alle denjenigen, die sagen, dass das Modell nicht funktionieren kann, denen sage ich: Sie haben Recht, es kann nicht funktionieren. Aber ich weiß manchmal auch nicht, wie die heutige Zusammenarbeit zwischen Kommission und dem Rat der Regierungschefs funktioniert. Doch die zukünftige Verfassung soll ja nicht nur die Repräsentanz der EU regeln, sondern die sozialökonomischen Ziele der Union festschreiben.

Das heißt, Sie halten den Konvent für stark genug, die deutsch-französische Doppelspitze zu verhindern?

Ich halte ihn für stark genug, den Vorschlag zu verändern. So könnten gerade die Vertreter der kleineren Staaten durchsetzen, dass der Ratspräsident aus den Reihen amtierender Regierungschefs gewählt wird. Dann hätten auch sie eine Chance. Und nicht nur die dann in ihren Ländern nicht mehr amtierenden Regierungschefs wie Aznar oder Blair. Zudem hat der Vorschlag einige Highlights. Zum Beispiel die Position des künftigen EU-Außenministers. Das wird eine selbstständig handelnde Persönlichkeit sein, die in Kommission und Rat verankert ist. So wie ich es verstehe, vertritt er und nicht der Ratspräsident die Außenpolitik der EU. Der Ratspräsident hat eher repräsentative Funktion.

Ein letztes Mal zur Geschichte. Theo Sommer hat über den Elysée-Vertrag geschrieben: „Wo die Entente zwischen Bonn und Paris bedeutsam hätte werden können, scheiterte sie am hegemonialen Willen de Gaulles. Nicht ja oder nein sollte Bonn sagen, sondern Amen.“

Das ist der übliche Jammerton aus Deutschland. Ja, sicher, die Franzosen haben in der Politik ein ganz anderes Selbstbewusstsein gehabt, weil sie nicht Hitler auf den Schultern tragen mussten. Als ich 15 oder 16 war, besuchte der damalige Außenminister Heinrich von Brentano unsere Schule. Es hat sich bei mir eingeprägt, als er sagte, dass die Deutschen unmittelbar nach den Erfahrungen der Europäer mit Nazideutschland nicht einfach in die politische Offensive gehen können, weil dies die Menschen, nicht nur die Regierungen, in unseren Nachbarstaaten nicht verstehen würden. Heute aber ist es falsch, zu sagen, die Bundesregierung hätte sich bei der EU-Doppelspitze den Pariser Vorstellungen gebeugt. Das Wichtigste war, zu verhindern, dass sich Jacques Chirac mit Tony Blair auf eine Stärkung der Regierungen auf Kosten von Parlament und Kommission einigt.

Man hat den Eindruck, die deutsch-französischen Beziehungen würden immer nur von großen Staatsmännern gemacht. Adenauer und de Gaulle, Schmidt und Giscard d’Estaing, Kohl und Mitterrand. Wo ist der Beitrag der Parteien, der Parlamente? Wird es jemals eine deutsch-französische grüne Partei geben?

Wenn man die Gesellschaft in beiden Staaten anschaut – da haben wir ein selbstverständliches Miteinander erreicht. Bei den politischen Strukturen jedoch – da sind die Unterschiede weiterhin immens. Die Gespräche zwischen deutschen und französischen Grünen verlaufen wie Gespräche zwischen den Regierungen. Obwohl wir angeblich die gleichen politischen Grundüberzeugungen haben. Ähnliches gilt für die Konservativen und die Sozialdemokraten. Aber beim EU-Gipfel von Nizza wurde der Aufbau von europäischen Parteien beschlossen, die bei den Europawahlen 2004 erstmals antreten sollen. Das setzt uns jetzt alle unter Druck. Wir müssen aufeinander zugehen und gemeinsame europäische Positionen formulieren. Bisher fand das nur im Europaparlament statt, doch davon erfährt die Öffentlichkeit fast nichts. Bei den Europawahlen wird es zum ersten Mal kein Ziel mehr sein, dem Bundeskanzler eine neue Niederlage beizubringen oder ihm zum Sieg zu verhelfen. Es wird um europäische Themen und Forderungen gehen. Es wird also keine deutsch-französische grüne Partei geben, sondern eine europäische.